PTA-Forum online Avoxa
instagram facebook
Autismus-Spektrum

Eine besondere Wahrnehmung

Menschen mit Autismus nehmen die Welt anders wahr als die meisten Menschen. Die Autismus-Expertin Dr. Kathrin Hippler hilft neurodivergenten Kindern mit ihrem aktuellen Ratgeber dabei, die eigene Wahrnehmung zu begreifen. Auch Nicht-Autisten können lernen, Personen mit Autismus besser zu verstehen und auf sie zu reagieren.
AutorKontaktJudith Schmitz
Datum 25.04.2025  12:00 Uhr

Autismus – der Begriff entstammt dem Griechischen und meint »sehr auf sich bezogen sein«. Heute ist auch häufig die Rede von Neurodivergenz: Damit ist eine besondere Art der Hirnentwicklung gemeint. Bedingt ist diese vermutlich durch kleine Veränderungen auf vielen Genen. Eine konkrete Ursache für Autismus ist bis heute unbekannt, eine polygene Vererbung wird vermutet.

»Durch diese abweichende Hirnentwicklung unterscheidet sich das Denken und Lernen von Autisten, ihr Wahrnehmen und Erleben von dem von Menschen mit typisch verlaufender Hirnentwicklung, also dem Großteil der Menschen, den neurotypischen«, erklärt Dr. Kathrin Hippler aus Wien, im Gespräch mit PTA-Forum. Hippler ist klinische Psychologin und Autorin des Ratgebers »Meine Entdeckungsreise durch das Autismus-Spektrum – Das Mitmachbuch: Stärkende Selbsterfahrung für Kinder ab 8 Jahren« (siehe Kasten).

Während viele Menschen mit Autismus ein besonderes Auge für Details haben, etwa den Marienkäfer auf dem Grashalm fasziniert beobachten, fehlt ihnen der Blick für das große Ganze. Sie bemerken also zum Beispiel nicht, dass der Grashalm Teil eines Fußballfeldes ist. Bei neurotypischen Menschen ist es meist umgekehrt, sie können Details besser herausfiltern, was zum Schutz vor Reizüberflutung dient. Auch interagieren sie laut Hippler mehr mit anderen, gehen soziale Beziehungen ein, kommunizieren neben dem Gesagten über Blickkontakt, Mimik und Gestik und erkennen intuitiv, wie das Gegenüber zu einem steht, etwa wohlwollend oder ablehnend.

»Das soll nicht heißen, dass Menschen mit Autismus nicht an anderen interessiert sind. Aber sie sprechen nicht die Sprache des Blickkontaktes und der nonverbalen Kommunikation. Gesagtes nehmen sie oft wörtlich. Lügen sind ihnen fremd. Versprechen gilt es, einzuhalten. Freundschaften gehen sie eher ein, um sich über Spezialthemen auszutauschen«, so Hippler. Die Psychologin betont: »Niemand ist total autistisch oder total neurotypisch.« Sie zitiert dazu die britische Psychiaterin und Autismus-Expertin Lorna Wing: »Nature never draws a line without smudging it« – Die Natur zeichnet keine Linie, ohne sie zu verschmieren. Eigenschaften und Wahrnehmungsweisen von Menschen mit und ohne Autismus können zu einem gewissen Grad überlappen. Autismus überschneide sich auch an vielen Stellen mit den Konzepten Introvertiertheit, Schüchternheit, Hochsensibilität und soziale Phobie, so Hippler.

Selbst binnen der Gruppe von Menschen mit Autismus gibt es neben Gemeinsamkeiten im Alltag große individuelle Unterschiede bei den Symptomen und ihrer Ausprägung und damit bei den Fähigkeiten der Personen. Daher spricht man nach ICD-11, der internationalen Klassifikation der Krankheiten, heute von einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS).

Im ICD-10 unterschied man noch nach den Unterdiagnosen frühkindlicher Autismus, oft mit beeinträchtigter Entwicklung im Allgemeinen sowie der Sprache und dem Asperger-Syndrom. Letzteres wird häufig bei älteren Kindern diagnostiziert, die über ein gutes Sprachvermögen und normale bis hohe Intelligenz verfügen, aber Probleme haben, sich in andere hineinzuversetzen und in einer Gruppe zu spielen. Oft haben sie Spezialinteressen und großes Spezialwissen. Kinder mit atypischem Autismus lassen sich keiner der beiden Gruppen zuordnen.

Drei Bereiche

Wie Hippler erklärt, muss ein Mensch für die Diagnosestellung Autismus deutliche Ausprägungen in diesen drei Bereichen haben:

  • Probleme beim sozialen Umgang und Austausch mit anderen
  • Auffälligkeiten bei der sprachlichen und/oder nonverbalen Kommunikation
  • Spezial-Interessen, sich wiederholende, stereotyp oder ritualisiert ablaufende Aktivitäten und Verhaltensweisen einschließlich Schwierigkeiten im Umgang mit Veränderungen sowie sensorische Über- oder Unterempfindlichkeiten.

Sind die Probleme stark ausgeprägt und nach außen sichtbar, wird die Diagnose ASS meist schon im Alter von zwei bis drei Jahren gestellt. Spezifische Therapien und Sozialtrainings sollen dann helfen, dem Kind ein integratives Leben in der neurotypisch geprägten Gesellschaft zu ermöglichen – unter Berücksichtigung seiner individuellen Bedürfnisse. Weniger stark ausgeprägte beziehungsweise nach außen wenig gezeigte Merkmale fallen dem Umfeld oder den Betroffenen erst später auf, eventuell erst in der Pubertät oder als Erwachsene. »Die Diagnose kann dann erleichternd wirken für ein schon immer gespürtes Anderssein und dafür, nun endlich eine Erklärung für dieses Gefühl zu haben«, so Hippler.

Laut der Expertin fällt in Deutschland geschätzt einer von 100 Menschen in das Autismus-Spektrum. Möglicherweise ist das Vorkommen noch häufiger, da insbesondere Mädchen erfolgreich Strategien anwenden, um ihre Symptome nach außen zu maskieren oder das Verhalten von Neurotypischen zu imitieren, was für sie selbst enorm anstrengend sein kann.

Aus ihrer langjährigen Erfahrung mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im Autismus-Spektrum weiß Hippler, dass viele Kinder und ihre Bezugspersonen mit der Diagnose Autismus alleingelassen werden oder sich die Diagnose im späteren Alter durch Eigenrecherche erarbeiten müssen. Ihr Ratgeber richtet sich in erster Linie an Kinder mit Autismus und durchschnittlicher bis hoher Intelligenz. Es ist ein kindgerecht gestaltetes Mitmachbuch, unter anderem mit Selbst-Check-Fragen etwa zu Stärken, Herausforderungen, wirksamen Strategien und für Mitmach-Bastelideen. Zudem wendet es sich an Eltern von Kindern mit Autismus und deren Therapeuten.

Fingertier als Metapher

Anschaulich und einfühlsam nehmen die Autorin Hippler und die Illustratorin, Tochter Pina Hippler, das Kind mit in seine autistische Wahrnehmungswelt. Stellvertretend für das Anderssein haben sie Aye-Ayes als Motiv gewählt. Diese kleinen Fingertiere sind Lemuren, scheue Einzelgänger, die nachts in den Regenwäldern Madagaskars jagen. Sie sind gut an ihre Umgebung und Bedürfnisse angepasst – können gut klettern und dank des ausgezeichneten Gehörsinnes ihre Beute hören. Doch fremde oder laute Geräusche, die nicht zu ihrer typischen Umgebung gehören, schmerzen ihnen in den Ohren.

Hipplers Botschaften: Jeder ist anders. Das ist okay. Wichtig ist, das Anderssein zu verstehen, beidseitig, die eigenen Stärken und Herausforderungen und die des anderen zu kennen, die eigenen Bedürfnisse zuzulassen und auf die des anderen Rücksicht zu nehmen. Dazu muss man wissen, wie der andere tickt – in der Familie, Klasse und später in Partnerschaft und Beruf.

»Einmal bedankte sich eine Patientin mit Tränen in den Augen, weil ich die erste Ärztin war, die für sie das Licht in der Praxis dimmte«, erzählt Hippler über eine Frau mit Autismus, die grelles Licht stark blendete. Eine hohe Sensibilität auf sensorische Reize des Alltags sei bei vielen Menschen mit ASS gegeben. Die Irritation bei Reizüberflutung könne so massiv sein, dass Konzentration, etwa auf den Unterricht, unmöglich werde und für längere Zeit das psychische Wohlbefinden und die Lebensqualität stark darunter litten.

Behutsam entdeckt das Kind mit Autismus im Ratgeber entlang der Lebenswelt der Aye-Aye seine Stärken und Herausforderungen und lernt Strategien, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Dazu fließen Zitate von Kindern, jungen Erwachsenen und Eltern ein. Zu den Stärken neurodivergenter Personen zählen etwa das Auge fürs Detail, das gute logische Denkvermögen – ein Plus für die Wissenschaft. Ein eigenes analytisches Urteil schützt sie vor Mitläufertum, auch Worttreue und Verlässlichkeit, sachliches statt moralisches Argumentieren und ein hoher Fairness- und Gerechtigkeitssinn sind ihnen oft zu eigen. Herausfordernd kann dagegen für Menschen mit Autismus sein, dass sie neben einer hohen sensorischen Sensibilität Gefühle, aber auch eigene Körpersignale wie Durst, Kälte, Harndrang kaum oder verspätet spüren, insbesondere wenn sie gerade ganz in ein Thema vertieft sind. Abhilfe kann hier ein Wecker schaffen, der etwa ans Trinken erinnert.

Viele können auch schwer mit Veränderungen umgehen, etwa mit einer neuen Sitzordnung in der Klasse oder einem anderen Mittagessen als zuvor besprochen. Sogenanntes Stimming, wiederholende, rhythmische Bewegungen oder wiederholendes Drücken von Objekten wie Kugelschreiber, bestimmte Geräusche oder wiederholendes Summen, wirken oftmals beruhigend auf neurodivergente Menschen – wenn sie sich dabei nicht selbst verletzen. Wichtig: Bezugspersonen wie die Klassenlehrerin sollten über die autistischen Besonderheiten des Schülers aufgeklärt werden, das Kind selbst sollte auf Veränderungen möglichst gut vorbereitet werden.

Das Kapitel »Selbstakzeptanz: So bin ich!« gibt auch Tipps, wem man von der Diagnose erzählen kann und wem besser nicht. Die Selbstakzeptanz ist wichtig, um eventuell bisher angewandte schädigende Anpassungsstrategien an Mitschüler, Lehrer, Eltern und so weiter abzulegen, weil das Maskieren und Imitieren auf die Dauer stark erschöpft und unglücklich macht. »Es ist wichtig, eine Balance zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen des Umfeldes zu finden. Für ein gelingendes Miteinander sind beide Seiten verantwortlich, Menschen mit und ohne Autismus«, so Hippler.

Frag die KI
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
 
FAQ
BETA
Menü
Zeit
SENDEN
Wie kann man die CAR-T-Zelltherapie einfach erklären?
Warum gibt es keinen Impfstoff gegen HIV?
Was hat der BGH im Fall von AvP entschieden?
Zeit
GESAMTER ZEITRAUM
3 JAHRE
1 JAHR
Senden
SENDEN
KI
IHRE FRAGE WIRD BEARBEITET ...
KI
KI
UNSERE ANTWORT
QUELLEN
22.01.2023 – Fehlende Evidenz?
LAV Niedersachsen sieht Verbesserungsbedarf
» ... Frag die KI ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln. ... «
Ihr Feedback
War diese Antwort für Sie hilfreich?
 
 
FEEDBACK SENDEN
FAQ
Was ist »Frag die KI«?
»Frag die KI« ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums versehen, in denen mehr Informationen zu finden sind. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung verfolgt in ihren Artikeln das Ziel, kompetent, seriös, umfassend und zeitnah über berufspolitische und gesundheitspolitische Entwicklungen, relevante Entwicklungen in der pharmazeutischen Forschung sowie den aktuellen Stand der pharmazeutischen Praxis zu informieren.
Was sollte ich bei den Fragen beachten?
Damit die KI die besten und hilfreichsten Antworten geben kann, sollten verschiedene Tipps beachtet werden. Die Frage sollte möglichst präzise gestellt werden. Denn je genauer die Frage formuliert ist, desto zielgerichteter kann die KI antworten. Vollständige Sätze erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer guten Antwort.
Wie nutze ich den Zeitfilter?
Damit die KI sich bei ihrer Antwort auf aktuelle Beiträge beschränkt, kann die Suche zeitlich eingegrenzt werden. Artikel, die älter als sieben Jahre sind, werden derzeit nicht berücksichtigt.
Sind die Ergebnisse der KI-Fragen durchweg korrekt?
Die KI kann nicht auf jede Frage eine Antwort liefern. Wenn die Frage ein Thema betrifft, zu dem wir keine Artikel veröffentlicht haben, wird die KI dies in ihrer Antwort entsprechend mitteilen. Es besteht zudem eine Wahrscheinlichkeit, dass die Antwort unvollständig, veraltet oder falsch sein kann. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung übernimmt keine Verantwortung für die Richtigkeit der KI-Antworten.
Werden meine Daten gespeichert oder verarbeitet?
Wir nutzen gestellte Fragen und Feedback ausschließlich zur Generierung einer Antwort innerhalb unserer Anwendung und zur Verbesserung der Qualität zukünftiger Ergebnisse. Dabei werden keine zusätzlichen personenbezogenen Daten erfasst oder gespeichert.
TEILEN
Datenschutz

Mehr von Avoxa