Eine besondere Wahrnehmung |
Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung brauchen Rückzugsmöglichkeiten, um sich vor Reizüberflutung zu schützen. / © Adobe Stock/azurita
Autismus – der Begriff entstammt dem Griechischen und meint »sehr auf sich bezogen sein«. Heute ist auch häufig die Rede von Neurodivergenz: Damit ist eine besondere Art der Hirnentwicklung gemeint. Bedingt ist diese vermutlich durch kleine Veränderungen auf vielen Genen. Eine konkrete Ursache für Autismus ist bis heute unbekannt, eine polygene Vererbung wird vermutet.
»Durch diese abweichende Hirnentwicklung unterscheidet sich das Denken und Lernen von Autisten, ihr Wahrnehmen und Erleben von dem von Menschen mit typisch verlaufender Hirnentwicklung, also dem Großteil der Menschen, den neurotypischen«, erklärt Dr. Kathrin Hippler aus Wien, im Gespräch mit PTA-Forum. Hippler ist klinische Psychologin und Autorin des Ratgebers »Meine Entdeckungsreise durch das Autismus-Spektrum – Das Mitmachbuch: Stärkende Selbsterfahrung für Kinder ab 8 Jahren« (siehe Kasten).
Während viele Menschen mit Autismus ein besonderes Auge für Details haben, etwa den Marienkäfer auf dem Grashalm fasziniert beobachten, fehlt ihnen der Blick für das große Ganze. Sie bemerken also zum Beispiel nicht, dass der Grashalm Teil eines Fußballfeldes ist. Bei neurotypischen Menschen ist es meist umgekehrt, sie können Details besser herausfiltern, was zum Schutz vor Reizüberflutung dient. Auch interagieren sie laut Hippler mehr mit anderen, gehen soziale Beziehungen ein, kommunizieren neben dem Gesagten über Blickkontakt, Mimik und Gestik und erkennen intuitiv, wie das Gegenüber zu einem steht, etwa wohlwollend oder ablehnend.
»Das soll nicht heißen, dass Menschen mit Autismus nicht an anderen interessiert sind. Aber sie sprechen nicht die Sprache des Blickkontaktes und der nonverbalen Kommunikation. Gesagtes nehmen sie oft wörtlich. Lügen sind ihnen fremd. Versprechen gilt es, einzuhalten. Freundschaften gehen sie eher ein, um sich über Spezialthemen auszutauschen«, so Hippler. Die Psychologin betont: »Niemand ist total autistisch oder total neurotypisch.« Sie zitiert dazu die britische Psychiaterin und Autismus-Expertin Lorna Wing: »Nature never draws a line without smudging it« – Die Natur zeichnet keine Linie, ohne sie zu verschmieren. Eigenschaften und Wahrnehmungsweisen von Menschen mit und ohne Autismus können zu einem gewissen Grad überlappen. Autismus überschneide sich auch an vielen Stellen mit den Konzepten Introvertiertheit, Schüchternheit, Hochsensibilität und soziale Phobie, so Hippler.
Selbst binnen der Gruppe von Menschen mit Autismus gibt es neben Gemeinsamkeiten im Alltag große individuelle Unterschiede bei den Symptomen und ihrer Ausprägung und damit bei den Fähigkeiten der Personen. Daher spricht man nach ICD-11, der internationalen Klassifikation der Krankheiten, heute von einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS).
Im ICD-10 unterschied man noch nach den Unterdiagnosen frühkindlicher Autismus, oft mit beeinträchtigter Entwicklung im Allgemeinen sowie der Sprache und dem Asperger-Syndrom. Letzteres wird häufig bei älteren Kindern diagnostiziert, die über ein gutes Sprachvermögen und normale bis hohe Intelligenz verfügen, aber Probleme haben, sich in andere hineinzuversetzen und in einer Gruppe zu spielen. Oft haben sie Spezialinteressen und großes Spezialwissen. Kinder mit atypischem Autismus lassen sich keiner der beiden Gruppen zuordnen.
Wie Hippler erklärt, muss ein Mensch für die Diagnosestellung Autismus deutliche Ausprägungen in diesen drei Bereichen haben:
Sind die Probleme stark ausgeprägt und nach außen sichtbar, wird die Diagnose ASS meist schon im Alter von zwei bis drei Jahren gestellt. Spezifische Therapien und Sozialtrainings sollen dann helfen, dem Kind ein integratives Leben in der neurotypisch geprägten Gesellschaft zu ermöglichen – unter Berücksichtigung seiner individuellen Bedürfnisse. Weniger stark ausgeprägte beziehungsweise nach außen wenig gezeigte Merkmale fallen dem Umfeld oder den Betroffenen erst später auf, eventuell erst in der Pubertät oder als Erwachsene. »Die Diagnose kann dann erleichternd wirken für ein schon immer gespürtes Anderssein und dafür, nun endlich eine Erklärung für dieses Gefühl zu haben«, so Hippler.
Laut der Expertin fällt in Deutschland geschätzt einer von 100 Menschen in das Autismus-Spektrum. Möglicherweise ist das Vorkommen noch häufiger, da insbesondere Mädchen erfolgreich Strategien anwenden, um ihre Symptome nach außen zu maskieren oder das Verhalten von Neurotypischen zu imitieren, was für sie selbst enorm anstrengend sein kann.
Aus ihrer langjährigen Erfahrung mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen im Autismus-Spektrum weiß Hippler, dass viele Kinder und ihre Bezugspersonen mit der Diagnose Autismus alleingelassen werden oder sich die Diagnose im späteren Alter durch Eigenrecherche erarbeiten müssen. Ihr Ratgeber richtet sich in erster Linie an Kinder mit Autismus und durchschnittlicher bis hoher Intelligenz. Es ist ein kindgerecht gestaltetes Mitmachbuch, unter anderem mit Selbst-Check-Fragen etwa zu Stärken, Herausforderungen, wirksamen Strategien und für Mitmach-Bastelideen. Zudem wendet es sich an Eltern von Kindern mit Autismus und deren Therapeuten.
Anschaulich und einfühlsam nehmen die Autorin Hippler und die Illustratorin, Tochter Pina Hippler, das Kind mit in seine autistische Wahrnehmungswelt. Stellvertretend für das Anderssein haben sie Aye-Ayes als Motiv gewählt. Diese kleinen Fingertiere sind Lemuren, scheue Einzelgänger, die nachts in den Regenwäldern Madagaskars jagen. Sie sind gut an ihre Umgebung und Bedürfnisse angepasst – können gut klettern und dank des ausgezeichneten Gehörsinnes ihre Beute hören. Doch fremde oder laute Geräusche, die nicht zu ihrer typischen Umgebung gehören, schmerzen ihnen in den Ohren.
Hipplers Botschaften: Jeder ist anders. Das ist okay. Wichtig ist, das Anderssein zu verstehen, beidseitig, die eigenen Stärken und Herausforderungen und die des anderen zu kennen, die eigenen Bedürfnisse zuzulassen und auf die des anderen Rücksicht zu nehmen. Dazu muss man wissen, wie der andere tickt – in der Familie, Klasse und später in Partnerschaft und Beruf.
»Einmal bedankte sich eine Patientin mit Tränen in den Augen, weil ich die erste Ärztin war, die für sie das Licht in der Praxis dimmte«, erzählt Hippler über eine Frau mit Autismus, die grelles Licht stark blendete. Eine hohe Sensibilität auf sensorische Reize des Alltags sei bei vielen Menschen mit ASS gegeben. Die Irritation bei Reizüberflutung könne so massiv sein, dass Konzentration, etwa auf den Unterricht, unmöglich werde und für längere Zeit das psychische Wohlbefinden und die Lebensqualität stark darunter litten.
Das Fingertier oder Aye-Aye aus Madagaskar steht im Ratgeber als Sinnbild für Menschen mit Autismus. Es ist nachtaktiv, ein Einzelgänger und recht empfindsam. / © Getty Images/25ehaag6
Behutsam entdeckt das Kind mit Autismus im Ratgeber entlang der Lebenswelt der Aye-Aye seine Stärken und Herausforderungen und lernt Strategien, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Dazu fließen Zitate von Kindern, jungen Erwachsenen und Eltern ein. Zu den Stärken neurodivergenter Personen zählen etwa das Auge fürs Detail, das gute logische Denkvermögen – ein Plus für die Wissenschaft. Ein eigenes analytisches Urteil schützt sie vor Mitläufertum, auch Worttreue und Verlässlichkeit, sachliches statt moralisches Argumentieren und ein hoher Fairness- und Gerechtigkeitssinn sind ihnen oft zu eigen. Herausfordernd kann dagegen für Menschen mit Autismus sein, dass sie neben einer hohen sensorischen Sensibilität Gefühle, aber auch eigene Körpersignale wie Durst, Kälte, Harndrang kaum oder verspätet spüren, insbesondere wenn sie gerade ganz in ein Thema vertieft sind. Abhilfe kann hier ein Wecker schaffen, der etwa ans Trinken erinnert.
Viele können auch schwer mit Veränderungen umgehen, etwa mit einer neuen Sitzordnung in der Klasse oder einem anderen Mittagessen als zuvor besprochen. Sogenanntes Stimming, wiederholende, rhythmische Bewegungen oder wiederholendes Drücken von Objekten wie Kugelschreiber, bestimmte Geräusche oder wiederholendes Summen, wirken oftmals beruhigend auf neurodivergente Menschen – wenn sie sich dabei nicht selbst verletzen. Wichtig: Bezugspersonen wie die Klassenlehrerin sollten über die autistischen Besonderheiten des Schülers aufgeklärt werden, das Kind selbst sollte auf Veränderungen möglichst gut vorbereitet werden.
Das Kapitel »Selbstakzeptanz: So bin ich!« gibt auch Tipps, wem man von der Diagnose erzählen kann und wem besser nicht. Die Selbstakzeptanz ist wichtig, um eventuell bisher angewandte schädigende Anpassungsstrategien an Mitschüler, Lehrer, Eltern und so weiter abzulegen, weil das Maskieren und Imitieren auf die Dauer stark erschöpft und unglücklich macht. »Es ist wichtig, eine Balance zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen des Umfeldes zu finden. Für ein gelingendes Miteinander sind beide Seiten verantwortlich, Menschen mit und ohne Autismus«, so Hippler.