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Diagnose bis Behandlung

Epilepsien bei Kindern verstehen

Epilepsie hat viele Gesichter. Für die bestmögliche Therapie ist es daher wichtig, die richtige Form zu diagnostizieren. Eltern können dem Arzt durch genaues Beobachten dabei helfen.
Judith Schmitz
23.05.2024  08:00 Uhr

Der größte Fehler sei, von »der« Epilepsie zu sprechen, sagt Professor Dr. Ulrich Brandl im Gespräch mit PTA-Forum. Inzwischen zwar emeritiert, berät der Facharzt für Kinderheilkunde und Neuropädiatrie weiterhin zu Epilepsien, etwa mit seinem aktuellen Eltern-Ratgeber »Unser Kind hat Epilepsie« (TRIAS Verlag, 2023, ISBN: 9783432117584). Bei Epilepsien handele es sich um eine Gruppe verschiedener chronischer Erkrankungen, die aber nicht zwingend das ganze Leben andauern müssen. Ihr gemeinsamer Nenner sind die Krampfanfälle. Die Bandbreite der Erkrankung reicht dabei von einer nur vorübergehenden Störung bis zu einer schweren chronischen Erkrankung, von nicht behandlungsbedürftig bis zu schwer behandelbar.

Einen epileptischen Anfall kann jeder erleiden, etwa bei Vergiftungen oder bei Verletzungen des Gehirns. Teile des Gehirns sind dabei plötzlich und zeitlich begrenzt abnorm aktiv. Bis zu 500-mal pro Sekunde senden viele Neuronen gleichzeitig Signale, was unwillkürliche Bewegungen, Empfindungen und Verhaltensweisen hervorrufen und durch die Störung der normalen neuronalen Aktivität zu Bewusstlosigkeit führen kann.

Anfälle können sehr unterschiedlich ablaufen, von einer kleinen Muskelzuckung über kurze Wahrnehmungsstörungen bis zu einem großen Anfall mit Bewusstlosigkeit und Zuckungen aller Muskeln. Wie ein Anfall konkret aussieht, hängt vom betroffenen Gehirnteil ab.

Von der Erkrankung Epilepsie sprechen Mediziner erst, wenn wiederholt epileptische Anfälle ohne äußere auslösende Faktoren und zu unvorhersagbaren Zeiten entstehen. Geschätzt leben etwa 400.000 bis 800.000 Menschen mit einer Epilepsie in Deutschland. Die Hälfte der Erkrankungen zeigt sich erstmals bis zum zehnten Lebensjahr, zwei Drittel werden bis zum Alter von 20 Jahren diagnostiziert.

Gleichgewicht gestört

Konkret ist bei einer Epilepsie das Gleichgewicht zwischen Hemmung und Aktivierung von Neuronen in einem oder mehreren Gehirnteilen instabil oder im Sinne einer erhöhten Aktivierbarkeit verschoben. Das kann an einer veränderten Produktion bestimmter Transmitter, einem veränderten Verhalten der neuronalen Rezeptoren oder einem Mangel an hemmenden Nervenzellen in bestimmten Hirnregionen liegen. Diese Abweichungen können entweder genetisch bedingt sein oder beispielsweise durch Unfallverletzungen, Hirntumoren oder Infektionen des Gehirns hervorgerufen werden. Epileptische Anfälle haben laut Brandl also keine einheitliche Ursache.

»Der Arzt muss für die richtige Diagnosestellung und geeignete Behandlung wissen, welche Anfallsformen bei dem Kind auftreten«, erläutert Brandl. Die Eltern sollten daher die wichtigsten Merkmale der verschiedenen Anfallsformen kennen, um sie dem Arzt beschreiben zu können. Hilfreich kann dabei auch ein Anfallskalender sein, wahlweise auch elektronisch per App, in den die Eltern Anfälle und Merkmale eintragen.

Ein wichtiges Unterscheidungskriterium etwa ist die Einteilung in generalisierte und fokale Anfälle: Bei einem generalisierten Anfall sind beide Hälften des Großhirns betroffen, das Bewusstsein des Kindes ist dadurch ausgeschaltet. Bei den fokalen oder Herdanfällen ist nur eine Hirnhälfte oder nur ein Teil davon betroffen. Das Bewusstsein bleibt ganz oder teilweise erhalten, weil die vom Anfall nicht unmittelbar betroffene Hirnhälfte normal weiterarbeitet.

Bei Kindern manchmal selbstlimitierend

Eine Besonderheit im Kindesalter ist die sogenannte selbstlimitierende Epilepsie. Die Anfälle beginnen meist im Alter von drei bis acht Jahren und enden spontan, meist während der Pubertät. Es sind relativ leichte und gut behandelbare Erkrankungen, die meist keine langfristigen Probleme verursachen. Viele Kinder, die an einer solchen Epilepsieform leiden, haben nur zwei bis drei Anfälle im ganzen Leben und benötigen keine medikamentöse Behandlung. Die zweithäufigsten Epilepsieformen bei Kindern sind solche mit Absencen. Das sind wenige Sekunden andauernde Störungen des Bewusstseins, Gleichgewicht und Atmung bleiben während des Anfalls stabil, das Kind fällt nicht um. In der Regel lassen sich diese laut Brandl ebenfalls sehr gut behandeln.

Selbstlimitierende Epilepsien und Absence-Epilepsien machen zusammen etwa die Hälfte aller Epilepsiefälle bei Kindern aus. Die gute Prognose dieser Erkrankungen liegt daran, dass sich das Gehirn im Laufe der Kindheit und des Jugendalters ständig weiterentwickelt und die Bedingungen, die zu den Anfällen führen, nur in bestimmten Entwicklungsstadien auftreten. Bei neu im Jugend- oder im Erwachsenenalter auftretenden Epilepsien sind die Chancen auf eine Ausheilung der Epilepsie eher gering, hier muss oft lebenslang behandelt werden.

»Erleben Eltern zum ersten Mal einen epileptischen Anfall ihres Kindes und zeigt sich dieser als generalisierter Krampfanfall, dann ist es wichtig, dass das Kind unmittelbar in einer Klinik gründlich mit MRT, EEG und auch sein Blut untersucht wird, um die genaue Ursache abzuklären«, sagt Brandl. Lautet die Diagnose Epilepsie und treten wiederholt Anfälle auf, sollte anschließend ein Neuropädiater in einer spezialisierten Epilepsie-Ambulanz das Kind untersuchen – für die bestmögliche Therapie und Prognose hinsichtlich Krankheitsverlauf und Hirnentwicklung. Die Deutsche Gesellschaft für Epileptologie listet auf ihrer Website entsprechende Adressen auf. Brandl beruhigt: »Normalerweise verpasst man nichts, wenn die Epilepsie nicht sofort behandelt wird, etwa weil man den Facharzttermin nicht zeitnah erhält. Entscheidend ist langfristig die richtige Therapie.«

Notfall Status epilepticus

Einzelne epileptische Anfälle verursachen laut Brandl in der Regel keine messbaren Hirnschäden. Ausnahme ist der Status epilepticus, ein Notfall. Dieser meist große Krampfanfall endet nicht von selbst. Er dauert länger als fünf Minuten oder die Betroffenen bleiben auch zwischen einzelnen kürzeren Anfällen bewusstlos. Da ab einer Anfallsdauer von 30 Minuten das Gehirn dauerhaft geschädigt werden kann, sollten Ersthelfer nach fünf Minuten den Notarzt rufen und den Betroffenen möglichst in die stabile Seitenlage bringen.

»Alternativ kann, sofern ein Notfallausweis und Notfallmedikament vorhanden sind, Letzteres zunächst verabreicht werden: Diazepam rektal oder Midazolam oral beziehungsweise als Nasenspray«, so Brandl. Der Status epilepticus kommt laut dem Experten nur bei einigen Epilepsieformen vor. Eine häufige Ursache ist das plötzliche Weglassen anfallssuppressiver Medikamente.

Aber auch häufige Anfälle oder eine starke Aktivität epileptischer Herde zwischen den Anfällen können die Entwicklung des Gehirns je nach betroffenem Hirngebiet besonders in den ersten drei Lebensjahren stören. Die geistige Leistungsfähigkeit des Kindes kann abnehmen, das Gehirn so umstrukturiert werden, dass weitere Anfälle wahrscheinlicher werden und weitere Anfallsformen hinzukommen. Auch Aufmerksamkeits-, Verhaltensstörungen und autistische Symptome sind möglich. Daher ist hier eine konsequente Behandlung wichtig. Neuropädiater empfehlen als Richtschnur eine Behandlung, wenn mindestens zwei Anfälle binnen eines Jahres erfolgen.

Weniger Verletzungen durch medikamentöse Therapie

Für eine Therapie spricht aus Sicht Brandls auch die Senkung des Verletzungsrisikos durch unkontrollierte Stürze, das Vermeiden von Ertrinkungsunfällen und eine möglichst große Teilhabe am sozialen Leben. Bei nicht anfallsfreien Kindern und Jugendlichen schränken die mit den Anfällen verbundenen Risiken die Teilnahme an bestimmten Sportarten, aber auch die Berufswahl ein, ebenso die Teilnahme am Straßenverkehr inklusive Führerscheinerwerb. Im oben genannten Ratgeber geht Brandl auch auf diese Aspekte und häufig gestellte Alltagsfragen ein.

Die Therapie erfolgt in der Regel mit anfallssuppressiven Medikamenten. Die früher als Antiepileptika bezeichneten Wirkstoffe setzen die abnorme Erregbarkeit von Nervenzellen bei einer Epilepsie herab. Inzwischen gibt es in Deutschland mehr als 35 für die Behandlung von Epilepsien zugelassene Wirkstoffe. Davon sind laut Brandl für jede Epilepsieform mehrere Medikamente verfügbar, die bei den Betroffenen Anfälle stoppen oder zumindest die Anzahl und Häufigkeit reduzieren können.

Die Herausforderung des Arztes liegt darin, eine individuell angepasste und möglichst nebenwirkungsarme Behandlung für den einzelnen Patienten zu finden. Wichtig ist, dass die Medikamente regelmäßig eingenommen werden, um einen wirksamen hemmenden Spiegel an den Nervenzellen zu erzielen. Therapiealternativen zur Medikation sind Operationen, eine Vagusnerv-Stimulation und die ketogene Diät. Die ketogene Diät eignet sich laut Brandl jedoch nur als Zweitlinientherapie, wenn sich der Zustand des Patienten mit Medikamenten nicht oder nur unzureichend verbessert oder er die Medikamente nicht verträgt.

Hungerstoffwechsel durch ketogene Diät

»Die ketogene Diät kann Anfallsfreiheit erzielen, ist aber eine stark in den Stoffwechsel des Kindes und in den Familienalltag eingreifende Therapie«, sagt Brandl. Das Gehirn erhält statt Glucose als Brennstoff Ketonkörper. Diese bildet er physiologisch im Hungerstoffwechsel beim Abbau von Fettreserven.

Die ketogene Diät ahmt den Hungerstoffwechsel quasi nach. Um den Behandlungserfolg der Anfallsfreiheit dauerhaft zu erzielen, muss sie strikt eingehalten werden: Die Glucosezufuhr wird stark eingeschränkt, Kohlenhydrate machen nur einen ganz kleinen Anteil der Nahrung aus. Ärzte und Ernährungsberater sollten die Diät begleiten, Blutwerte müssen auf Mangelstörungen überprüft und drohende Unterzuckerungszustände erkannt beziehungsweise vermieden werden.  »Die meisten Familien halten diese Ernährungsform nur ein paar Monate durch. Einige Kinder haben jedoch Glück, wenn ihr Körper im Rahmen ihrer Entwicklung nun besser auf anfallssuppressive Medikamente anspricht. Dann hat ihnen die ketogene Diät zur therapeutischen Überbrückung geholfen«, sagt Brandl.

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