Essstörungen bei (jungen) Männern unterschätzt |
Extrem trainieren und extrem auf die Ernährung achten, kennzeichnen häufig eine Essstörung bei jungen Männern. / © Adobe Stock/Vasyl
Es sind vor allem Mädchen und Frauen, die Essstörungen entwickeln – diese Fehleinschätzung ist weit verbreitet. Nicht nur bei Betroffenen, Eltern, Lehrern oder anderen Bezugspersonen, sondern auch in der Fachwelt. Studien weisen darauf hin, dass bei Männern mit auffälligem Gewicht stärker nach körperlichen Ursachen gesucht wird als bei weiblichen Betroffenen. Essstörungen werden hingegen oft gar nicht in Betracht gezogen.
Die diagnostischen Kriterien für Essstörungen basieren im Wesentlichen auf den Symptomen von Mädchen und Frauen. So galt das Ausbleiben der Menstruation lange als notwendiges Kriterium für die Diagnose einer Anorexie. Die Anorexiegrenze (BMI 17,5) ist auf den weiblichen Körper ausgelegt und in Fragebögen werden männliche Symptome oft nur unzureichend abgebildet. Körperbezogene Sorgen, Ängste und Selbstzweifel werden bei Jungen und Männern dadurch schnell unterschätzt.
Erschwerend kommt hinzu: Männer neigen tendenziell stärker als Frauen dazu, psychische Erkrankungen herabzuspielen und zu verleugnen. Das fehlende Bewusstsein, dass Essstörungen keine Frauenkrankheit sind, macht die Selbsteinschätzung nicht leichter und kann Schamgefühle sowie Angst vor Stigmatisierung erzeugen.
Vor allem Jugendliche leiden unter Letzterem besonders stark. Sie befinden sich in einer Entwicklungsphase, in der es im Rahmen der Ausbildung der Geschlechtsidentität, zu einer Überidentifikation mit stereotypen Männlichkeitsbildern und einem übertriebenen Darstellen von männlichen Attributen und Verhaltensweisen kommen kann. Gleichzeitig distanzieren sich junge Männer von als weiblich angesehenen Merkmalen. An einer vermeintlichen Frauenkrankheit zu leiden, Hilfe zu benötigen und damit Schwäche zu zeigen, ist für betroffene Jungen meist keine Option.
Experten gehen davon aus, dass die Zahl der männlichen Betroffenen deutlich unterschätzt wird. Klar ist jedoch: Jungen und Männer können an allen Arten von Essstörungen erkranken. Die Häufigkeitsverteilung unterscheidet sich zudem nicht von der bei Mädchen und Frauen. So ist nach Angaben des Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) die Binge-Eating-Störung die häufigste Essstörung. Betroffene erleben hierbei wiederholte Essanfälle, in denen große Mengen ohne körperliches Hungergefühl gegessen werden.
Anschließende kompensatorische Verhaltensweisen bleiben aus, weshalb Übergewicht oder Adipositas auftreten können. Die Binge-Eating-Störung geht mit hohen Scham- und Schuldgefühlen einher, die bei Männern tendenziell noch stärker ausgeprägt sind als bei Frauen. Sie leben ihre Essanfälle im Verborgenen und zeigen meist eine geringere Bereitschaft, sich auf professionelle Hilfe einzulassen.
Auf dem zweiten Platz folgt die Bulimie. Auch hier erleben Betroffene wiederkehrende Essanfälle, in denen innerhalb kurzer Zeit bis zu mehrere Tausend Kalorien aufgenommen werden. Um eine Gewichtszunahme zu verhindern, folgen jedoch kompensatorische Verhaltensweisen. Jungen und Männer setzen hierbei typischerweise auf exzessiven Sport. Besonders problematisch daran, im Gegensatz zum Erbrechen des Verzehrten oder zu strengen Diäten, ist Sport sozial akzeptiert, wirkt belohnend und bestärkend.
Tritt eine Anorexie in ihrer klassischen Form auf, steht die starke Angst vor einer Gewichtszunahme im Mittelpunkt der Erkrankung. Die Nahrungsaufnahme wird durch strenge Ernährungsregeln, Kalorienzählen und Fasten eingeschränkt, dazu wird intensiver Sport betrieben. Jungen und Männer können eine ganz klassische Anorexie entwickeln; häufiger tritt sie aber in Kombination mit einer Muskelsucht (auch Muskeldysmorphie oder Adonis-Komplex) auf.
Die Muskelsucht gilt derzeit nicht als Essstörung, sondern als Verhaltensstörung. In Ausprägung und Entstehung zeigen sich jedoch zahlreiche Parallelen zur Anorexie, weshalb sie von Experten mitunter als männliche Form der Erkrankung bezeichnet wird.
Nach Angaben der BIÖG wird geschätzt, dass etwa 1 Prozent der Allgemeinbevölkerung von einer Muskelsucht betroffen ist. Im Leistungssport wird eine deutlich höhere Zahl Betroffener vermutet. Sie alle leiden unter einer gestörten Körperwahrnehmung, in der sie sich selbst als zu schmächtig und schwach empfinden, obwohl eine überdurchschnittliche Muskelmasse vorhanden ist. Die Nahrungsaufnahme erfolgt nach streng kontrollierten Diätplänen, die auf Muskelzuwachs und Fettabbau ausgerichtet sind und wird durch ein intensives Sportprogramm ergänzt. Im Mittelpunkt steht dabei der Muskelaufbau durch Kraftsport.
Betroffene konsumieren deshalb oft große Proteinmengen und Nahrungsergänzungsmittel; Anabolika können eine Rolle spielen. Sport und die Planung der Mahlzeiten bestimmen bei vielen Betroffenen den Tagesablauf. Das Ausmaß kann so groß werden, dass es zum bestimmenden Lebensinhalt wird. Schulische, berufliche oder private Verpflichtungen werden untergeordnet und oft vernachlässigt. Typischerweise verbergen Betroffene ihr Verhalten vor Außenstehenden.
Essstörungen beginnen oft im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter, können grundsätzlich aber auch im späteren Leben neu auftreten. Körperliche Anzeichen können bei Jungen und Männern eine starke Gewichtszunahme oder -abnahme, häufige Gewichtsschwankungen oder auffälliger Muskelzuwachs sein. Engen Bezugspersonen kann zudem eine Veränderung im Essverhalten oder eine Intensivierung des Trainingsverhaltens auffallen. Auch Verhaltensveränderungen wie sozialer Rückzug, Interessenverluste, Stimmungsschwankungen oder ein Leistungsabfall in der Schule können aufmerksam machen.
Grundsätzlich gilt nun: Keines dieser Anzeichen muss auf eine behandlungsbedürftige Erkrankung hindeuten und kann immer auch Teil der normalen Entwicklung sein. Im Fall einer Krise oder einer beginnenden Erkrankung kann ein Gesprächsangebot jedoch wertvolle Unterstützung bieten, denn gerade männliche Betroffene wissen oft nicht, wo und wie sie geeignete Beratungsangebote finden können.
Menschen mit Essstörungen zeigen oft eine hohe Ambivalenz, wenn es um ihre Erkrankung geht. Auf der einen Seite werden sie nicht gerne auf die Essstörung angesprochen. Auf der anderen Seite besteht ein großes Bedürfnis, mit der körperlich sichtbaren Symptomatik wahrgenommen zu werden. Diese erfordert ein einfühlsames Vorgehen und eine wertfreie sowie akzeptierende Haltung.
In Abhängigkeit von der Reaktion des Gegenübers können Informationsmöglichkeiten empfohlen werden. So bekommen Betroffene die Möglichkeit, sich ohne Angst und Druck mit dem Thema Essstörungen auseinanderzusetzen, sich selbst mit den beschriebenen Symptomen und Verhalten zu vergleichen und im Bedarfsfall Hilfe zu erreichen.
In Deutschland gibt es inzwischen ein gut ausgebautes Netzwerk an Beratungsangeboten für Betroffene sowie ihre Angehörigen. Die meisten von ihnen unterstützen Betroffene unabhängig von ihrem Geschlecht. Es gibt aber auch einige Einrichtungen, die sich gezielt an Jungen und Männer mit Essstörungen oder Muskelsucht richten:
Manchmal fällt eine Online-Beratung leichter als ein persönlicher Termin. Der Bundesfachverband Essstörungen bietet in Zusammenarbeit mit dem BIÖG eine Datenbank an, in der alle Beratungsstellen in Deutschland aktuell gehalten werden. Eine gezielte Suche nach Online-Angeboten ist hier möglich.