Für alle die gleiche Therapie? |
Menschen unterscheiden sich in vielen Merkmalen. Das sollte auch in der Medizin stärker berücksichtigt werden, sagen Experten. / Foto: Adobe Stock/Mirko Raatz
Wenn es in der Politik um Diversität geht, geht es meist darum, ob und wie es gelingen kann, dass Personen verschiedener sozioökonomischer und ethnischer Herkunft gleichermaßen an der Gesellschaft teilhaben. Im Gesundheitsbereich ist das nicht anders. Etliche Faktoren wirkten sich auf den Verlauf, die Therapierbarkeit und das Management etwa von Krebserkrankungen aus, sagt Professor Dr. Marie von Lilienfeld-Toal im Gespräch mit PTA-Forum, nämlich: »Geschlecht, Ethnie, Alter, Gewicht oder Polymorphismen, also das Auftreten verschiedener Genvarianten, aber auch Schulabschluss, Einkommen oder Familienstatus.« Die Onkologin ist Direktorin des im vergangenen Juli gegründeten Instituts für Diversitätsmedizin der Ruhr-Universität Bochum. Das Institut will dazu beitragen, dass alle Menschen die gleichen Chancen auf eine angemessene gesundheitliche Versorgung haben.
Das klingt eigentlich simpel, ist es aber nicht. Denn über Jahre und Jahrzehnte wurden Therapien und Medikamente hauptsächlich an jungen weißen Männern mit durchschnittlichem Körpergewicht, akademischem Hintergrund und ohne körperliche Beeinträchtigung getestet. Mit dem Resultat, dass die Mittel anschließend bei dieser Bevölkerungsgruppe am besten anschlugen. Zwar habe sich auf diesem Gebiet in den vergangenen Jahren einiges verbessert, aber von gesundheitlicher Gleichstellung könne noch lange keine Rede sein.
Als anschauliches Beispiel nennt von Lilienfeld-Toal das Multiple Myelom, das zu den häufigsten Tumoren von Knochen und Knochenmark gehört. Die Chance, bei dieser Erkrankung auf die Behandlung mit einem Proteasominhibitor (PI), einem oralen immunmodulierenden Wirkstoff (IMiD) oder einem CD38-Antikörper gut anzusprechen, wird durch die Genetik der Tumorzellen beeinflusst. Die Standardtherapie, die die Leitlinie für Menschen unter 70 empfiehlt, ist aber für alle gleich: eine Hochdosistherapie mit autologer Stammzelltransplantation (ASCT).
»Retrospektive Subgruppenanalysen zeigen aber, dass Schwarze Menschen, die in den Studien bisher unterrepräsentiert waren, genauso gut auf eine wesentlich niedriger dosierte Therapie ansprechen – und dann auch mit leichteren Nebenwirkungen rechnen können.« Frauen, eine ebenfalls in Studien unterrepräsentierte Gruppe, tragen ein doppelt so hohes Risiko, durch die ASCT schwere Nebenwirkungen zu erleiden, wie Männer. Auch für andere Krebstherapien, unter anderem mit 5-Fluorouracil (5-FU), gilt, dass Frauen deutlich häufiger Nebenwirkungen erleben als Männer. »Einer der Gründe dafür könnte sein, dass bei ihnen wegen ihres in der Regel geringeren Körpergewichts die Dosis dichter ist«, erläutert die Onkologin. Interessant sei nun aber eine Situation, in der mehrere Merkmale, die in Studien unterrepräsentiert sind, gleichzeitig vorkommen – beispielsweise eine Schwarze Frau. Möglicherweise sind in solchen Situationen die Abweichungen von den Ergebnissen aus den klinischen Studien besonders ausgeprägt.
Ein weiteres Beispiel für unberücksichtigte Unterschiede in der Therapie ist die Behandlung von Darmkrebs. Auch hier ist es so, dass die Empfehlung der Leitlinie nur für einen Teil der Betroffenen – nämlich für die Männer – optimal funktioniert. Darmkrebs bei Männern lässt sich besser mit einer Kombination aus zwei Chemotherapoeutika behandeln, während bei Frauen eine Monotherapie mit einem Chemotherapeutikum ebenso gute Ergebnisse zeigt. Dennoch empfiehlt die Leitlinie in beiden Fällen die – mit stärkeren Nebenwirkungen belastete – Kombinationstherapie.
Die bekanntesten und bestuntersuchten Determinanten von Gesundheit und Behandlung seien genetische Polymorphismen aufgrund der geografischen Herkunft, Geschlecht/Geschlechtsidentität und sozioökonomischer Status, berichtet von Lilienfeld-Toal. »Im schlimmsten Fall führt eine Nichtbeachtung dieser Faktoren zu falschen Diagnosen und zu Fehlbehandlung.« Beispielsweise gebe es Studien, die belegen, dass Herzinfarkte bei Frauen später diagnostiziert und behandelt werden als bei Männern, mit entsprechenden negativen Folgen. Belegt sei auch, dass die Heilungschancen bei vielen Krankheiten für Menschen in ärmeren Wohngegenden geringer sind als für diejenigen, die in reicheren Vierteln wohnen. »Arme Menschen bekommen häufiger Krebs, und sie sterben dramatisch häufiger daran.« Generell haben in Deutschland Menschen mit starker sozioökonomischer Deprivation eine geringere Lebenserwartung als Menschen ohne Deprivation – bei Männern kann dieser Unterschied bis zu sechs Jahren betragen.
Für die USA zeige die Datenlage, dass beispielsweise Angehörige von Minderheiten an sich (das heißt auch nach Berücksichtigung des sozioökonomischen Status) medizinisch schlechter versorgt würden als weiße Amerikaner. »Entsprechende Daten für Deutschland sind bisher noch unsystematisch beziehungsweise lückenhaft, allerdings weisen die vorhandenen Studien auf ähnliche Phänomene hin.«
Dies zu verändern, ist das erklärte Ziel der Diversitätsmedizin. Diese berücksichtigt über das bislang Erwähnte hinaus auch Faktoren wie Alter, körperliche Behinderung oder sexuelle Orientierung – ebenso wie den kulturellen Hintergrund oder die Religion, die sich durchaus auf die Wahrnehmung von Krankheit und den Behandlungsverlauf auswirken können. So wiesen Studien schon länger auf einen Zusammenhang zwischen Religion und Gesundheit hin, berichtet Sabrina Koch, die innerhalb ihres Studiums der Gesundheitsökonomie an der Hochschule Stralsund zu dem Thema arbeitet. »Gläubige haben oft mehr Vertrauen in Heilungsprozesse und eine positivere Grundeinstellung, durch den Glauben an eine höhere Macht, die über den weiteren Krankheitsverlauf bestimmt. Dies kann aber auch ein Grund sein, um ärztliche Hilfe gar nicht oder erst spät in Anspruch zu nehmen«, erläutert sie gegenüber PTA-Forum. Koch stellt fest, dass es unter Medizinstudentinnen und -studenten ein großes Interesse gibt, in der Ausbildung mehr über Diversität in der Medizin zu erfahren. »Als Pflichtthema ist das aber in den Ausbildungsrichtlinien nicht verankert.«
Zum Thema Diversitätsmedizin wirkt von Lilienfeld-Toal auch an einem Lehrprojekt mit, das auch Normwerte in der Hämatologie behandelt. Darin geht es unter anderem darum, dass es Abweichungen im Blutbild gibt – etwa bei der Zahl der Makrophagen – die bei bestimmten Personengruppen durchaus normal sind und demzufolge nicht pathologisiert werden sollten. Es gibt aber auch das gegenteilige Phänomen, dass manche Normwerte Menschen gesund erscheinen lassen, die möglicherweise behandlungsbedürftig sind. So sei erst in den vergangenen Jahren erkannt worden, dass bei der Konzentration der roten Blutkörperchen die Normwerte möglicherweise inkorrekt geschlechtsspezifisch angepasst wurden. Die Medizin habe sich über Jahrzehnte darin eingerichtet, dass Frauen statistisch niedrigere Konzentrationen der roten Blutkörperchen aufweisen, und das einfach als normal akzeptiert. »Dabei hat man das häufige Vorhandensein eines latenten Eisenmangels mit den entsprechenden Folgen (Schlappheit, Infektanfälligkeit) bei Frauen einfach hingenommen.« Inzwischen weiß man, dass Frauen, deren Konzentration roter Blutkörperchen zwar niedrig, aber noch im anerkannten »normalen« Bereich ist, objektiv leistungsstärker werden, wenn sie eine Eisensubstitution bekommen, die die Produktion von roten Blutkörperchen anregt. Viele Frauen bräuchten für ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit mehr rote Blutkörperchen, als es die Norm vorsieht.
Die Medizin könne auf Referenzwerte keinesfalls verzichten, betont von Lilienfeld-Toal. »Aber wir müssen lernen, dass die heutigen Normwerte aus Mangel an intersektionalen Betrachtungsweisen häufig falsch klassifizieren – manche pathologisieren gesunde Menschen, manche verkennen eine Pathologie, weil sie die Abweichung nicht verstehen.« Was es braucht, sind deshalb genauere Definitionen der Referenzwerte für besser beschriebene und spezifischere Gruppen. »Wir brauchen kontextbewusste, diversitätsbewusste Normwerte für eine Medizin, die ihren Ansprüchen, für alle Menschen gleichermaßen da zu sein, gerecht wird.«