Funktionellen Beschwerden auf den Grund gehen |
Die Patientenleitlinie vergleicht funktionelle Beschwerden mit einem Orchester, das aus dem Takt geraten ist. Es fehlt am harmonischen Zusammenspiel und als Ergebnis entstehen Missklänge in Psyche und Physis. / Foto: ©papa - stock.adobe.com
Funktionelle Beschwerden treten in allen Altersgruppen, Gesellschaftsschichten und Kulturen, allerdings bei Frauen häufiger als bei Männern auf. Ein Großteil der Patienten hat gleichzeitig mehrere organisch nicht zuzuordnende Symptome. Trotz ihrer Häufigkeit werden funktionelle Beschwerden jedoch nur allzu oft nicht erkannt, zu gering ist das Wissen bezüglich Entstehung, Ursachen und entsprechender Behandlung bei Patienten und oftmals auch Therapeuten.
Zur besseren Versorgung der Betroffenen ist 2018 für Mediziner eine neu überarbeitete S3-Leitline »Funktionelle Körperbeschwerden« erschienen. In Ergänzung haben die »Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und ärztliche Psychotherapie« (DGPM) und das »Deutsche Kollegium für Psychosomatische Medizin« (DKPM) in Kooperation mit Dachverbänden der Selbsthilfegruppen nunmehr die zugehörige S3-Leitlinie für Patienten herausgegeben.
Diese soll Betroffenen das Verständnis für ihre Symptome sowie die Kooperation und das Zusammenspiel mit ihren Therapeuten erleichtern. Die Leitlinie, die den Titel »Funktionelle Körperbeschwerden verstehen und bewältigen« trägt, hilft nicht nur in der Arztpraxis, sondern auch in der Apotheke, mit Patienten ins Gespräch zu kommen und sie zur Selbsthilfe und Selbstfürsorge anzuregen.
»Leidet der Mensch unter funktionellen Beschwerden, so ist dieses vergleichbar mit einem Orchester, das aus dem Takt geraten ist: Alle Instrumente funktionieren. Jeder einzelne Musiker spielt richtig, doch es fehlt am harmonischen Zusammenspiel. Als Ergebnis entstehen Missklänge: Ebenso reagiert der menschliche Körper bei seelischen Diskrepanzen mit eindeutig wahrnehmbaren Dissonanzen«, so die Leitlinienautoren. Diese sprechen von »Dysbalancen zwischen Körper und Psyche«, die nicht mit einer »Spezialisten-Lupe«, sondern nur einem »Weitwinkelobjektiv« aufgedeckt werden können.
Stress am Arbeitsplatz oder in der Familie, Sorgen, Ängste, Verlusterfahrungen, Beziehungsprobleme: Meist seien es mehrere psychische, soziale und körperliche Auslöser, die zusammenwirken, bis der Körper quasi ein Stoppsignal sendet. Bei der Betreuung, Information und Beratung müsse daher stets der ganze Mensch in den Blick genommen werden. »Es muss aufmerksam zugehört und gründlich nachgefragt werden. Überdiagnostik, Verlegenheitsdiagnosen und Betriebsblindheit sind hier fehl am Platz, zumal die Gefahr der Chronifizierung und Folgeschäden besteht«, so lautet die eindringliche Warnung der Experten.
Auch wenn eine medikamentöse oder gar operative Therapie bei funktionellen Beschwerden nicht zielführend sei, könne die ärztliche Konsultation unumgänglich sein, um die Beschwerden durch eine gründliche Anamnese und körperliche Untersuchung von anderen Syndromen abzugrenzen. Dann stehen seitens Therapeut und Patient »abwartendes Beobachten« oder noch besser »wachsames Offenhalten« auf dem Plan.
Nur allzu verständlich herrsche oft die Furcht, dass ein organisches Leiden übersehen wird. Doch die Sachverständigen beruhigen. Sie betonen, dass Fehleinschätzungen selten sind: Studiengemäß stellen sich bei höchstens vier von 100 Patienten zunächst als funktionell eingestufte Beschwerden später als manifeste und klinisch erkennbare Verletzungen oder Erkrankungen heraus.
Die Experten weisen darauf hin, dass der Patient durch entsprechende Vorbereitung anhand der im Rahmen der Leitlinie aufgezeigten Checkliste »Mein Arztgespräch« selbst zur richtigen Einordnung der Krankheitszeichen beitragen kann. Leiden circa 50 Prozent der Menschen mit schweren funktionellen Beschwerden an psychischen Grunderkrankungen wie Depressionen, Panik, Süchten oder posttraumatischen Belastungsstörungen, so erübrige sich die Frage nach der Henne und dem Ei: »Psychisches Leiden kann und muss benannt und behandelt werden.«
Die Leitlinie empfiehlt ein nach Schweregraden gestuftes Vorgehen, das zunächst vollständig auf Information und Stärkung der Selbsthilfe setzen sollte. Ob in der Arztpraxis oder in der Apotheke: Wesentlich sei es, im Beratungsgespräch in anschaulicher Weise die wissenschaftlich belegten Zusammenhänge zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen und so auch den möglichen Teufelskreis aus Angst, Anspannung, Beschwerden, Anspannung und Angst zu erläutern.
Als wichtige Säule der Behandlung sehen die Experten jedwede gezielte Aktivitäten, die den Kreislauf, die Muskelkraft und das positive Körpererelben stärken können. Das können Ausdauertraining, Mannschaftssport beziehungsweise physikalische und komplementärmedizinische Optionen oder Entspannungs-, Atem-, Meditations- und Stressbewältigungstechniken sein. Bei ausgewählten Symptomen könne vorübergehend gegebenenfalls ein ärztlicher Therapieversuch mit spezifischen Medikamenten angezeigt sein, um Schonhaltungen oder den Circulus vitiosus aus »Niedergeschlagenheit-Beschwerden-noch mehr Niedergeschlagenheit« zu durchbrechen.
Von »A« wie Atmungsstörungen bis »Z« wie nervöses Zucken und Tic-artigen Erscheinungen: In umfangreichen Tabellen zeigt die Leitlinie besonders häufig vorkommende funktionelle Beschwerden sowie eine Vielzahl sinnvoller Selbsthilfemöglichkeiten auf. Sie bietet zudem eine detaillierte Link- und Quellensammlung sowie eine Auflistung der Adressen von Selbsthilfeorganisationen beziehungsweise wichtiger Vermittlungs- und Anlaufstellen. In Fallbeispielen wird bildhaft die besonders quälende Lage von Betroffenen aufgezeigt, die zusätzlich noch auf Unverständnis und Ignoranz in ihrem Umfeld stoßen.
»Der Körper ist der Ausdruck der Seele«: Für Patienten könne es wichtig sein zu wissen, dass ihre Beschwerden stellvertretend auch für die psychischen Belastungen eines nahen Angehörigen oder der ganzen Familie stehen können. Es sei möglich, dass sie dieselben Symptome wie eine für sie wichtige Bezugsperson auch in der Vergangenheit entwickeln. Obwohl völlig gesund, empfänden manche Menschen zum Beispiel Brustschmerzen, nachdem ein Elternteil an einem Herzinfarkt verstorben ist.
Hier könnten professionelle psychotherapeutische Begleitmaßnahmen zur Aufdeckung widriger Lebenskontexte, falscher innerer Realitäten, negativer Vorannahmen und krankmachender Erwartungen beziehungsweise psychotherapeutische Behandlungsansätze wie das Führen eines Tagesbuches, therapeutisches Schreiben oder Biographie-Arbeit sinnvoll sein, so die Leitlinienexperten.
Die Experten halten fest: »Bei funktionellen Beschwerden kann man sagen, dass die Hardware, also der Körper intakt, die Software aber, also die Psyche, durcheinandergeraten ist. Und Software-Fehler behebt man nun mal nicht, indem man den Computer röntgt oder zerlegt.«