Gemeinsame Aktivitäten und Nachhilfe kombinieren |
Unbeschwert mit Freunden spielen – das tut der Psyche gut und hilft dabei, Lernstoff besser nachzuholen. / Foto: Adobe Stock/Robert Kneschke
Familienforscher warnen davor, die psychischen Belastungen durch die Corona-Pandemie auf Schülerinnen und Schüler zu unterschätzen. »Die Auswirkungen von Schulschließungen auf die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen sind offensichtlich gravierender als bisher angenommen«, erklärte der stellvertretende Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), Martin Bujard, vergangene Woche in Wiesbaden. Davon seien speziell jugendliche Mädchen und junge Menschen mit Migrationshintergrund betroffen.
»Das Offenhalten der Schulen sollte hohe Priorität haben, damit sich psychische Belastung und Lernrückstände nicht noch weiter verstärken können,« so Bujard. Hochrechnungen hätten ergeben, dass nach dem ersten Lockdown 2020 rund 477.000 Jugendliche im Alter von 16 bis 19 Jahren in einer Selbsteinschätzung Symptome einer Depression zeigten. Dies entspräche etwa 25 Prozent dieser Bevölkerungsgruppe – im Vergleich zu 10 Prozent bei einer Befragung im Jahr vor der Pandemie.
Der Blick auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen muss daher nach Einschätzung des Experten ebenso wichtig sein wie das Schließen von Bildungslücken. »Kontakte mit Gleichaltrigen, Lebensfreude und altersgerechte Erlebnisse in Sport, Freizeit oder Reisen sind daher zukünftig zentral, nicht nur Nachhilfeangebote«, heißt es in der BiB-Publikation.
Psychisch gesunde und selbstsichere Kinder könnten mögliche Lernrückstände deutlich schneller und leichter aufholen, erklärten die Experten. Hilfreich seien beispielsweise Programme, die Kindern aus sozial schwachen Familien die Teilnahme an Ausflügen und Schulfahrten finanzierten.
»Wenn Kinder und Jugendliche wieder Zeit für Aktivitäten mit Gleichaltrigen bekommen und Lebensfreude zurückgewinnen und das schulische Aufholen ohne zu viel Druck und Verunsicherung gestaltet wird, wird sich auch die psychische Belastung der Jugendlichen verringern können«, heißt es in der Studie. Werde aber schulischer Druck ausgeübt und die Schüler verunsichert, drohten ernsthafte psychische Erkrankungen.
Nach den Worten von Bujard ist es jedoch nicht gerechtfertigt, pauschal von einer »verlorenen Generation« zu sprechen. »Rund zwei Drittel der Kinder und Jugendlichen sind trotz mancher Schwierigkeiten relativ gut durch die bisherigen pandemiebedingten Einschränkungen gekommen«, erklärte er.
Auch Prof. Dr. Helena Dimou-Diringer, Leiterin der Ambulanz für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie der Heidelberger Akademie für Psychotherapie, empfiehlt, für Kinder und Jugendliche »Inseln der Freude« zu schaffen und diese bewusst zu genießen. »Die jungen Leute leben in sehr großer Unsicherheit, deshalb müssen sie die jetzigen Freiheiten wie Treffen, Feiern, Schwimmen und Spielen bewusst auskosten«, so die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Denn die Entwicklung der Infektionszahlen könne wieder zu Wechselunterricht oder gar zu einem Lockdown führen.
Auch die Diskussion über Pro und Contra der Impfung für Jüngere und der Vormarsch der Delta-Variante verunsicherten die Jungen und Mädchen. Besonders schwierig sei, dass der Beginn der Sommerferien die Phase der Ungewissheit nicht beendet habe. »Die Schüler fragen sich schon jetzt, wie es im neuen Schuljahr für sie weitergeht.« In den letzten paar Monaten Präsenzunterricht vor den Ferien seien sie mit ihren Defiziten konfrontiert worden. »Der Leistungsdruck war sehr hoch.«
Nach den Ferien sofort mit dem Pauken anzufangen, sei der falsche Weg: Der Mensch entwickele sich durch den Umgang mit anderen. »Daraus bezieht man Energie, nicht aus der frischen Luft, die wir jetzt zur Genüge haben.« Deshalb müsse der Schwerpunkt auf regelmäßigen gemeinsamen Aktivitäten wie Ausflügen liegen. Es gebe junge Menschen, die befürchteten, wegen Corona im kommenden Winter zum dritten Mal in Folge ihren Geburtstag nicht feiern zu können. »Für diese Jahrgänge sind zwei Jahre sehr lang.«
Die Zahl der 300 bis 400 Jugendlichen, die in der Ambulanz der Heidelberger Akademie für Psychotherapie wöchentlich behandelt werden, ist laut Dimou-Diringer nicht wesentlich gestiegen. »Aber die schon kranken Kinder und Jugendlichen kommen kränker bei uns an«, sagte die Ambulanzchefin. Die Kinder seien aus dem Radar der Lehrer oder des Jugendamts verschwunden, deshalb seien Störungen wie soziale Ängste, Magersucht und Zwänge unbehandelt geblieben.