Harninkontinenz behandeln |
Verena Schmidt |
19.06.2024 08:00 Uhr |
Bei einer Dranginkontinenz kommt es plötzlich zu starkem Harndrang. Oft schaffen es die Betroffenen dann nicht mehr rechtzeitig zur Toilette. / Foto: Getty Images/Peter Cade
Über Harninkontinenz spricht niemand gerne. Dabei sind mindestens 10 Millionen Deutsche betroffen; laut der Deutschen Kontinenz Gesellschaft ist es eine regelrechte Volkskrankheit. Experten gehen von einer hohen Dunkelziffer aus, weil viele Betroffene das Problem aus Angst und Scham verheimlichen.
Wer unter einer Harninkontinenz leidet, kann Urin nicht halten beziehungsweise ihn kontrolliert abgeben und die Entleerungsfunktion der Blase nicht kontrollieren. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Inkontinenz als eigenständige Erkrankung anerkannt. Mediziner unterscheiden dabei zwei Hauptformen: Bei einer Belastungs- oder Stressinkontinenz, die fast ausschließlich Frauen betrifft, kommt es bei körperlicher Anstrengung etwa durch Husten, Niesen, Lachen oder schweres Heben, unwillkürlich zum Abgang von Urin.
Die Dranginkontinenz ist dagegen gekennzeichnet durch Harndrang, der plötzlich auftritt und so stark ist, dass der Betroffene es nicht rechtzeitig zur Toilette schafft. Nicht selten treten auch Mischformen mit Symptomen beider Inkontinenzformen auf, vor allem bei älteren Menschen.
Inkontinenz ist ein echtes Tabuthema, über das Menschen kaum reden. Mehr als die Hälfte der Betroffenen sprechen selbst mit ihrer Familie nicht über das Problem, 69 Prozent nicht mit engen Freunden und 39 Prozent vertrauen sich sogar dem Partner nicht an. Das zeigt eine Untersuchung mit dem Titel »Breaking the silence« des Forschungsinstituts Edelman Intelligence im Auftrag der Hartmann-Gruppe, die Medizin- und Pflegeprodukte herstellt. Im Februar 2019 waren dazu Online-Interviews mit insgesamt 2311 Personen, die an Harninkontinenz leiden, durchgeführt worden. Die Befragten waren älter als 45 und lebten in Deutschland, Frankreich, Tschechien, Spanien oder der Schweiz.
68 Prozent der Befragten gaben im Rahmen der Studie an, dass die Inkontinenz ihr gesamtes Leben negativ beeinflusst. 47 Prozent fühlen sich aufgrund der Harninkontinenz alt, viele Betroffene schränken sich in Freizeit und Sozialleben ein. Fast die Hälfte aller Befragten verzichtet auf Sport, 40 Prozent auf längere Reisen und 39 Prozent auf Sex.
Bei Senioren über 65 Jahren ist Harninkontinenz eine der häufigsten Altersbeschwerden. Frauen und Männer sind dann gleichermaßen betroffen. In Senioren- und Pflegeheimen haben Schätzungen zufolge etwa 80 Prozent der Bewohner eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Inkontinenz.
Die Ursachen sind vielfältig, häufig liegen der Inkontinenz eine Schwäche der Beckenbodenmuskulatur, eine Schädigung der Bänder, die die Blase halten, oder eine Harnwegsinfektion zugrunde. Aber auch neurologische Grunderkrankungen wie Multiple Sklerose, Schlaganfälle oder Alzheimer können eine Inkontinenz zur Folge haben, ebenso Prostatavergrößerungen bei Männern sowie bei Frauen hormonelle Veränderungen durch Schwangerschaft oder Wechseljahre.
Die Therapie der Harninkontinenz richtet sich in erster Linie nach den zugrunde liegenden Ursachen. Bei einer Belastungsinkontinenz – und häufig auch bei Dranginkontinenz und Mischformen – sind Beckenbodenübungen effektiv, wie viele Studien zeigen. Erfolge lassen sich mit regelmäßigem Training über längere Zeit bei Problemen nach einer Schwangerschaft, aber auch bei älteren Patientinnen erzielen. Biofeedbackverfahren, Vaginalkonen («Liebeskugeln« oder Kegel zum Einführen in die Scheide), Elektro- oder Magnetfeldstimulation können ebenfalls die Stärkung der Beckenbodenmuskulatur unterstützen. Ein vom Gynäkologen angepasstes Pessar kann in die Scheide eingeführt werden und hilft dabei, die Harnröhre zu stützen und den Beckenboden zu entlasten. Es kann dauerhaft oder nur bei bestimmten Aktivitäten wie Sport getragen werden.
Bei Dranginkontinenz kann laut der in diesem Jahr aktualisierten Leitlinie »Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten – Diagnostik und Therapie« auch ein Toiletten- beziehungsweise Blasentraining helfen. Dabei wird ein Zeitplan aufgestellt: Die Betroffenen gehen regelmäßig in bestimmten Abständen zur Toilette, auch wenn kein Harndrang besteht. Die Intervalle zwischen den Toilettengängen sind zunächst recht kurz und werden dann immer weiter ausgedehnt.
Zusätzlich erlernt der Betroffene Techniken, um den Harndrang zu unterdrücken und die Blasenentleerung hinauszuzögern. Das Training soll die Blase daran gewöhnen, mehr Urin zu speichern. Die Leitlinie empfiehlt Betroffenen außerdem eine Gewichtsreduktion bei Adipositas, die begleitende Behandlung einer Obstipation und möglichst einen Rauchverzicht. Wer viel Kaffee trinkt (> 200 mg Koffein beziehungsweise zwei Tassen Kaffee pro Tag), sollte die Menge reduzieren.
Bei leichter bis mittelschwerer Belastungsinkontinenz kann bei Frauen der selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Duloxetin (Yentreve® und Generika), der auch als Antidepressivum zugelassen ist, angewendet werden. Er erhöht den Muskeltonus des Schließmuskels der Blase und vergrößert deren Kapazität. Die Einnahme sollte möglichst mit Beckenbodentraining kombiniert werden. Wichtiger Hinweis für die Beratung: Zu Beginn der Einnahme leiden viele Patientinnen an Nebenwirkungen wie Übelkeit, Mundtrockenheit oder Schlafstörungen. Durchhalten lohnt sich oft, meist bessern sich die unerwünschten Wirkungen nach einigen Wochen.
Bei Dranginkontinenz verordnet der Arzt häufig Anticholinergika wie Oxybutynin (zum Beispiel Dridase®, Kentera®), Propiverin (Mictonetten®, Mictonorm®), Tolterodin (Detrusitol®) oder Trospiumchlorid (unter anderem Spasmex®, Spasmolyt®). Die Wirkstoffe reduzieren durch Hemmung muskarinerger Rezeptoren die Kontraktilität des Detrusormuskels in der Blase, übermäßige Kontraktionen werden reduziert und die Blasenkapazität nimmt zu. Als Folge wird der Harndrang reduziert und tritt nicht mehr so plötzlich auf; die Intervalle zwischen den Toilettengängen können verlängert werden.
Therapielimitierend, vor allem bei geriatrischen, multimorbiden Patienten, sind die häufigen Nebenwirkungen der Anticholinergika wie Mundtrockenheit, Obstipation, Glaukomauslösung, Restharnbildung und Beeinträchtigung der Kognition bis hin zum Delir und erhöhtem Sturzrisiko. Unretardiertes Oxybutynin hat laut den Leitlinienautoren die höchste Nebenwirkungsrate, bei älteren Patienten sollte es nicht eingesetzt werden. Bei Präparaten mit verzögerter Wirkstofffreisetzung und transdermalen Pflastern treten weniger Nebenwirkungen auf.
Der β3-Rezeptoragonist Mirabegron (Betmiga™) ist etwas besser verträglich, er hat einen anderen Wirkmechanismus als die Anticholinergika. Und zwar stimuliert er über ß3-Rezeptoren die Relaxation des Detrusors in der Speicherphase der Harnblase. Allerdings kann Mirabegron als Nebenwirkung Bluthochdruck auslösen beziehungsweise eine bestehende Hypertonie verschlechtern. Bei Hypertonie-Patienten sollte daher regelmäßig der Blutdruck gemessen werden.
Lässt sich mit Medikamenten keine anhaltende Besserung erzielen, ist die Injektion von Botulinum-A-Toxin (Botox) in den Detrusormuskel eine Möglichkeit. Die Wirkung hält in der Regel drei bis sechs Monate an, danach kann die Anwendung wiederholt werden. Daneben gibt es zahlreiche Operationsmethoden, beispielsweise die sakrale Neuromodulation, bei der der Arzt an Nervenbahnen im Rückenmark einen Schrittmacher einsetzt, der die Spannung der Blasenmuskulatur steuert, eine Schlingenoperation, bei der ein Kunststoffband um die Harnröhre geführt wird, oder auch eine Laserbehandlung von Harnröhre oder Scheidenwand.
Manche Patienten leiden vor allem nachts unter starkem und häufigem Harndrang mit oder ohne Einnässen (Polyurie-Syndrom). Ursachen können beispielsweise ein symptomatisches Prostatasyndrom, eine Herzinsuffizienz, ein Diabetes mellitus oder insipidus, eine erhöhte abendliche Trinkmenge oder die abendliche Diuretikaeinnahme sein. Besteht das Problem trotz Behandlung beziehungsweise Medikationsumstellung weiter fort, kann das synthetische Hormon Desmopressin (zum Beispiel Minirin®, Nocdurna®, Nocutil®) eingesetzt werden.
Es verringert die Urinmenge, die von den Nieren in die Blase gelangt. Die Wirkung hält etwa acht bis zwölf Stunden an, die Anwendung ist als Nasenspray, Tablette oder Schmelztablette möglich. Bei Über-65-jährigen Patienten sollte der Natriumspiegel im Blut unter der Therapie überwacht werden, da eine Hyponatriämie das Risiko für kognitive und neuromuskuläre Effekte erhöht und Stürze und Delirien auslösen kann.