Hat die Schreibschrift ausgedient? |
Erst Druckschrift lernen und dann nach und nach in Schreibschrift übergehen: Der Plan der Kultusministerkonferenz geht nicht auf. Zu unleserlich ist die Handschrift der meisten derzeitigen Schüler. / Foto: Adobe Stock/pcponatz.de
Welche Schrift sollen ABC-Schützen lernen? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Klassiker sind die lateinische Ausgangsschrift, die seit den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik gelehrt wurde, und die Schulausgangsschrift, die sich Ende der Sechzigerjahre in der DDR etablierte. Beide Schriften ähneln sich. Wörter werden – ohne abzusetzen – in einem Rutsch geschrieben. Durch Auf- und Abschwünge sowie Häkchen und Ösen gelingt es, die Buchstaben nahezu lückenlos aneinanderzureihen.
Obwohl diese Schriften im Vergleich zur früher üblichen Sütterlinschrift geradezu puristisch anmuten, regte sich Widerstand. Vereinfachung wurde gewünscht, Verzicht auf Schmuckwerk und Schnörkel – kurzum eine Schrift, die leichter zu erlernen sei. In den 1970er-Jahren wurde in der Bundesrepublik als Alternative die vereinfachte Ausgangsschrift eingeführt. Man muss schon sehr genau hinsehen, um die Unterschiede zur lateinischen Ausgangsschrift zu entdecken. Etwas jedoch war wirklich neu: Die vereinfachte Ausgangsschrift orientierte sich nicht mehr an der Grundlinie. Die Mittellinie wird jetzt plötzlich zur Richtschnur, an der Erstklässler ihre Buchstaben ausrichten sollen. Was das Schreibenlernen nicht wirklich einfacher, sondern schwerer macht.
Drei Jahrzehnte lang peilten dann die Schüler mit ihren Buchstaben die – imaginäre – Mittellinie an, dann galt auch die vereinfachte Ausgangsschrift als überholt. Die fließende Schreibschrift habe ganz ausgedient, sie sei im digitalen Zeitalter nicht mehr zeitgemäß. Diese Ansage wurde nach der Jahrtausendwende von den Kultusbeauftragten laut. Nun wurde die sogenannte Grundschrift entwickelt, eine Art Druckschrift, in der die Buchstaben ohne Verbindung nebeneinandergesetzt werden. Eine solche Schrift passe sehr viel besser zum modernen Schreibverhalten via Smartphone und Co. Wer schreibe denn heute noch mit der Hand?
Diese Sichtweise ist keineswegs konsensfähig und hat zu heftigen Debatten geführt, die allerdings mehr aus dem Bauch heraus als auf der Basis wissenschaftlich fundierter Argumente geführt wurden und immer noch werden. Im Schulalltag hat sich die Druckschrift als Einstiegsschrift offenbar nicht bewährt, denn inzwischen ist man schon wieder davon abgerückt – zumindest in einigen Bundesländern, denn Lehrpläne sind Ländersache.
Es lässt sich derzeit kaum überblicken, wo Erstklässler in welcher Schrift unterrichtet werden. Das Ganze ist wenig transparent und scheint ziemlich chaotisch. Ein unlängst in der Süddeutschen Zeitung erschienener Artikel spricht in diesem Zusammenhang von einem »föderal desorientierten Bildungssystem«. Offenbar hat sich inzwischen in vielen Schulen die Praxis etabliert, Kinder zunächst die Druckschrift erlernen zu lassen und später auf Schreibschrift umzustellen. Immerhin gibt es auch noch die Verlautbarung der Kultusministerkonferenz, dass Kinder nach der Grundschule eine »lesbare und flüssige Handschrift« haben sollen. Allerdings sind Entscheidungen dieser Konferenz nicht unmittelbar bindend, sondern erlangen erst Rechtsgültigkeit, wenn ein Bundesland sie in Landesrecht umgemünzt hat.
Fakt ist: Mit der lesbaren und flüssigen Handschrift hapert es gewaltig. Seit rund drei Jahrzehnten geht es mit den handschriftlichen Fähigkeiten der Bundesbürger bergab. Umfragen bei Lehrern, die der Deutsche Lehrerverband 2015 und 2018 in Auftrag gegeben hat, kommen zu dem Schluss: Die Unfähigkeit, zügig und leserlich zu schreiben, wird für immer mehr Kinder und Jugendliche zum Handicap. Laut den befragten Lehrern haben mehr als ein Drittel aller Grundschüler Schwierigkeiten, eine lesbare, flüssige Handschrift zu entwickeln. Im späteren Alter führt das zu schwer bis kaum zu entziffernden Handschriften. Viele Jugendliche haben eine »Sauklaue«, wie der »Spiegel« schreibt. Hinzu kommt, dass viele Kinder und Jugendliche sehr langsam schreiben. Lehrer sind davon überzeugt, dass die Schreibschwierigkeiten weitreichende Konsequenzen haben und das Lernvermögen der Kids nachhaltig beeinträchtigen können.
Schwierigkeiten der Kinder beim Schreibenlernen werden interessanterweise sowohl von den Verfechtern der Grundschrift als auch von deren Kritikern ins Feld geführt. Diejenigen, die auf Druckbuchstaben setzen, wollen es Kindern damit leichter machen. Die beobachteten Schwierigkeiten – so wird argumentiert – seien darauf zurückzuführen, dass flüssiges Schreiben von Hand nicht mehr mit den heutigen Kommunikationsmustern zusammenpasse. Bereits im Vorschulalter werden Kinder auf Smartphones und Co. eingeschworen und entwickeln in diesem Alter oft schon eine erstaunliche Fingerfertigkeit im Bedienen der Tastaturen. Feinmotorische Fähigkeiten, wie sie für die Ausbildung einer Handschrift erforderlich sind, seien dagegen bei vielen Kindern unterentwickelt. Schlussfolgerung: Die Schreibschrift überfordert die Kids und ist nicht mehr zeitgemäß, also wird sie abgeschafft. Aus der Not wird eine Tugend, und die Welt ist wieder in Ordnung.
Ganz anders sehen es die Kritiker der Schreibreform und Schreibschrift-Befürworter: Für sie ist eine flüssige Handschrift etwas Elementares und Wertvolles. Sie halten nichts davon, immer gleich eine Überforderung der Kinder zu wittern und sie davor schützen zu wollen. Kinder müssen im Gegenteil gefordert werden.
Die Initiative »Schrift in der Schule«, die von engagierten Pädagogen ins Leben gerufen wurde, hat kürzlich ein entsprechendes Positionspapier an die Kultusministerien der Länder geschickt. Die Bedeutung einer flüssigen Schreibschrift werde unterschätzt, heißt es darin. Zunächst einmal geht es um die Fähigkeit, sich schriftlich zu artikulieren, was – auch im digitalen Zeitalter – per se ein hohes Gut darstellt. Hinzu kommt, dass Kinder, die nicht flüssig schreiben können, auch sonst in der Schule leicht ins Hintertreffen geraten. Wer sich im Unterricht keine leserlichen Notizen machen kann, dem fehlt eine wesentliche Lerngrundlage.
Eine fließende Schreibschrift sei etwas ganz anderes als geschriebene Druckbuchstaben. Immerhin sei der Schreibfluss ein hochkomplexer Vorgang: Durch Trainieren wird die Schreibbewegung automatisiert und im motorischen Gedächtnis gespeichert. Spätestens am Ende der Grundschulzeit sollte dieser Prozess abgeschlossen sein, so die Arbeitsgruppe »Schrift in der Schule«. Die Aufmerksamkeit werde durch den Schreibfluss fokussiert, kognitive Prozesse gehen mit dem Schreiben Hand in Hand. Das handschriftliche Drucken einzelner Buchstaben entbehre einer solchen Dynamik und stelle keine echte Alternative dar.
Noch etwas kommt hinzu: Mit der Hand schreiben und eine eigene Handschrift entwickeln, sind kreative Prozesse. Und die braucht es gerade in einem Zeitalter mit fast schon übermächtiger Technikaffinität dringend als Gegenpol. Die Handschrift ist eine Art Kunstwerk. Es fließt etwas von der Persönlichkeit des Schreibenden mit hinein. Nicht ohne Grund wurde bis vor nicht allzu langer Zeit bei Bewerbungen ein handgeschriebener Lebenslauf verlangt. Graphologie ist zwar als Wissenschaft nicht unumstritten, und es sei dahingestellt, was man zum Beispiel aus einer Handschrift alles herauslesen kann. Aber selbst das ungeschulte Auge kann erkennen, dass Persönlichkeit und Handschrift häufig gut zusammenpassen.
Die Technisierung der Welt immer weiter zu treiben und sie zum Maß aller Dinge zu machen. ist höchst fragwürdig. Schleichend vollzieht sich ein Wandel, der irgendwann nicht mehr rückgängig zu machen ist. Wenn Kindern das Von-Hand-Schreiben nicht mehr vermittelt würde, wäre das für die Gesellschaft ein großer Verlust. Davon ist die Initiative »Schrift in der Schule« überzeugt.