Hierzulande geschätzt, in Schweden beäugt |
Haben pflanzliche Arzneimittel hierzulande eine hohe Akzeptanz, spielen sie in Schweden nur eine untergeordnete Rolle. / Foto: Adobe Stock/Mustafa
Ob Auszüge aus Hypericum perforatum (Johanniskraut) bei leichten bis mittelschweren Depressionen oder der gemahlene Wurzelstock von Zingiberis officinale (Ingwer) in Kapseln gegen Übelkeit und Erbrechen – pflanzliche Arzneimittel haben eine lange Tradition und genießen in Deutschland eine hohe Akzeptanz. Wie Umfragen regelmäßig bestätigen, schätzen Verbraucher ihre gute Verträglichkeit, die geringen Nebenwirkungen und die milde Wirksamkeit. Zudem gelten pflanzliche Arzneimittel dem deutschen Gesundheitsmonitor des Bundesverbands der Arzneimittelhersteller BAH zufolge als verträglicher als synthetische, aber nicht so wirksam.
Diese hohe Akzeptanz zeigt sich auch zahlenmäßig. In den vergangenen zehn Jahren hat der Absatz von pflanzlichen Arzneimitteln in Deutschland kontinuierlich zugenommen. Wurden 2014 noch 160 Millionen Packungseinheiten abgesetzt, kletterte der Absatz 2019 auf 175 Millionen, teilt der BAH mit. Ein Trend, den die Coronavirus-Pandemie verstärkt hat. Ein Drittel des Apothekenpersonals bestätigt dies in der erstmals aufgelegten aposcope-Studie »Phytopharmaka 2020/2021 - Pflanzliche Arzneimittel in der Apotheke«. Demnach ist die Nachfrage nach pflanzlichen Arzneimitteln im Oktober 2020 bei bestimmten Indikationen im Vergleich zum Vorjahr teils deutlich gestiegen. So verzeichnen mehr als zwei Drittel der befragten Apothekenmitarbeiter vor allem bei Präparaten zur »Stärkung des Immunsystems« eine höhere Nachfrage, ebenso zur »Beruhigung« (45 Prozent) und bei »Stress« (44 Prozent).
Im Unterschied zu chemisch-synthetischen Präparaten sind Phytopharmaka Arzneimittel, die als wirksame Bestandteile ausschließlich pflanzliche Drogen oder Zubereitungen daraus enthalten. Pflanzliche Arzneimittel sind also definitionsgemäß Vielstoffgemische. Dennoch unterliegen sie den gleichen rechtlichen Regularien wie chemisch-synthetische Arzneimittel. Der Hersteller muss eine Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Qualität der Zubereitung mit entsprechenden Unterlagen belegen, will er das Präparat in Deutschland auf den Markt bringen.
Soll es in allen Ländern des Europäischen Wirtschaftsraums zugelassen werden, wird die Zulassung von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA). Im Zuge der stärkeren Harmonisierung des europäischen Binnenmarktes wurde das Zulassungssystem EU-weit vereinheitlich. Um ein pflanzliches Arzneimittel auf den Markt zu bringen, kommen drei verschiedene Verfahren in Frage:
Heute werden Phytopharmaka entweder (selten) auf Basis eines sogenannten Vollantrags mit vollständiger Dokumentation der präklinischen und klinischen sowie präparatespezifisch durchgeführten Untersuchungen oder (häufiger) auf Basis ihrer allgemein anerkannten medizinischen Verwendung (well-established medicinal use) zugelassen. Bei Letzterem muss der Antragsteller keine eigenen präklinischen und klinischen Daten vorlegen, wenn er nachweisen kann, dass der Wirkstoff (Extrakt) des Arzneimittels seit mindestens zehn Jahren allgemein medizinisch verwendet wurde, sich die Wirksamkeit aus Publikationen belegen lässt und ein annehmbarer Grad der Sicherheit vorliegt. Aus Sicht des Herbal Medicinal Products Committees (HMPC), das bei der EMA angesiedelt ist, ist für die Zuordnung zu dieser Kategorie mindestens eine gute klinische Studie erforderlich.
Eine weitere Möglichkeit besteht darin, Phytopharmaka als »traditionelle pflanzliche Arzneimittel« mit Indikationen für relativ geringfügige Gesundheitsstörungen (traditional use) registrieren zu lassen, wenn der Wirksamkeitsbeleg nicht ausreichend erbracht werden kann, die Arzneimittel aber eine auf 30-jähriger Anwendung und Erfahrung beruhende plausible Wirksamkeit, eine ausreichende pharmazeutische Qualität und eine belegte Unbedenklichkeit nachweisen können.
Die Vorschriften für die Zulassung pflanzlicher Arzneimittel sind in der gesamten EU gleich, der Stellenwert, den die Präparate in jedem Mitgliedstaat einnehmen, ist jedoch sehr unterschiedlich. In der jüngsten Erhebung von IMS International hatte Deutschland den größten Anteil am europäischen Markt mit pflanzlichen Arzneimitteln (38 Prozent), Frankreich lag auf Platz zwei (22 Prozent). Alle anderen Länder befanden sich im einstelligen Prozentbereich, der von Italien mit 9 Prozent sowie Polen und Russland mit je 7 Prozent angeführt wurde.
Auch in Schweden haben pflanzliche Arzneimittel kaum eine Bedeutung. Die Präparate fallen in den Zuständigkeitsbereich des Läkemedelsverket. »Diese Behörde ist für die Zulassung aller Arzneimittel zuständig, egal ob sie für Mensch oder Tier gedacht sind«, erklärt Lisa Ziebeil. Die 50-jährige Apothekerin hat nach ihrem Examen 1994 in Hamburg noch 13 Jahre in deutschen Apotheken gearbeitet, bevor sie nach Schweden umgezogen ist. Dort arbeitet sie nun seit mittlerweile zehn Jahren bei Apotek Hjärtat, einer Apothekenkette, und kennt daher die Situation in beiden Ländern sehr gut. »In Schweden gibt der Antragsteller vor, ob das Arzneimittel später rezeptfrei oder -pflichtig sein soll, und das Läkemedelsverket gibt grünes Licht«, informiert Ziebeil.
In der Datenbank des Läkemedelsverket sind im November 2020 insgesamt rund 14.000 zugelassene Arzneimittel erfasst. Davon sind 54 pflanzliche Arzneimittel (Växtbaserade läkemedel, VBL) und 43 traditionelle pflanzliche Arzneimittel (Traditionella växtbaserade läkemedel, TVBL). Hinzu kommen sieben sogenannte »Naturläkemedel« (NLM), deren Wirkstoffe tierischen (wie Fischöl), bakteriellen (wie Lactobacillus gasseri) oder mineralischen (wie Calciumcarbonat) Ursprungs sein können. Weitere 19 Präparate gehören zu den »Vissa utvärtes medel (VUM)«, einer eigenen Kategorie an rezeptfreien und nicht-apothekenpflichten Präparaten zur topischen Anwendung; Tiger Balsam ist etwa ein bekannter Vertreter. Die Kategorie stirbt jedoch aus, denn seit dem 1. Januar 2017 lassen sich keine neuen VUM mehr beantragen. Zuvor zugelassene VUM-Präparate bleiben erhalten.
Zum Vergleich: In Deutschland sind dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zufolge mehr als 100.000 verschiedene Arzneimittel behördlich zugelassen , davon 889 pflanzliche und 232 traditionelle pflanzliche Arzneimittel . »In Deutschland probieren die Verbraucher gerne zunächst etwas Natürliches. Sie denken sich: Wenn das nicht hilft, kann ich immer noch die chemische Keule nehmen«, schätzt Ziebeil die Lage ein. »In Schweden haben die Verbraucher pflanzliche Arzneimittel gar nicht auf dem Schirm.«
Welche Gründe könnte das haben? Der 2019 verstorbene Universitätsprofessor Ingemar Joelsson, der als führender Experte für Pflanzenheilkunde galt, hat der Zeitschrift »Hälsa« (deutsch: Gesundheit) ein Interview über den Stellenwert von pflanzlichen Arzneimitteln in Schweden gegeben. Darin vermutete er, dass eine starke Pharmaindustrie dahinterstecke und Apotheken und Behörden sehr skeptisch gegenüber pflanzlichen Arzneimitteln seien. »Wenn Sie beispielsweise erkältet sind und in Deutschland einen Arzt aufsuchen, wird Ihnen sehr wahrscheinlich ein Echinacea-haltiges Präparat empfohlen. In Schweden wird Ihnen gesagt, Alvedon (Markenname für ein schmerzlinderndes und fiebersenkendes Präparat mit dem Wirkstoff Paracetamol, Anmerkung der Redaktion) oder ein anderes synthetisches Medikament einzunehmen.«
Außerdem hat Pflanzenheilkunde im Pharmazie-Studium in Schweden kaum einen Stellenwert. »In Deutschland bin ich im Rahmen meines Studiums durch den pharmazeutischen Kräutergarten gegangen und habe die verschiedenen Arzneipflanzen, ihre Anwendungsgebiete und Darreichungsformen gelernt. In Schweden hat dieser Inhalt kaum einen Stellenwert, weder im fünfjährigen Apothekerstudium, noch im dreijährigen Studium zum sogenannten Receptarie«, erzählt Lisa Ziebeil. »Receptarie« unterscheiden sich von ihren späteren Berufsaussichten und Aufgaben kaum vom Apotheker in Deutschland.
Schwedische Ärzte und Apotheker dürfen nur empfehlen, was wissenschaftlich bewiesen ist. Deshalb sind auch andere alternative Heilmethoden in Schweden kaum ein Thema. »Ich habe in meinen zehn Jahren hier in Schweden noch kein homöopathisches Arzneimittel in der Hand gehabt«, so Ziebeil. Und das, obwohl in Schweden zahlreiche Präparate von Acidum benzoicum bis Zincum valerianicum registriert sind.
Und in Zukunft? »Pflanzliche Präparate haben hier zwar einen festen, aber nur sehr kleinen Platz, vermutlich wird sich die Akzeptanz und der Marktanteil nicht sehr verändern«, vermutet Ziebeil. Ihre Kunden sind trotzdem dankbar, wenn sie gut dokumentierte Phytopharmaka von ihr empfohlen bekommen. »Ich bin froh, dass es pflanzliche Behandlungsoptionen für Stress, Schlafprobleme, Blasenentzündungen, Prostataprobleme, Klimakterium, Erkältung, Husten oder Nasennebenhöhlenentzündung gibt«, so Ziebeil. Nur auf einige beliebte Phyto-Schnelldreher aus Deutschland wartet sie immer noch.
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.