Hilfsangebote zur Suizidprävention weiter finanzieren |
Spezielle Beratungsangebote, auch online, können Suizidgefährdete oft von der Umsetzung abhalten. / Foto: Adobe Stock/Stanislaw Mikulski
Alle fünf Minuten findet ein Suizidversuch statt, etwa einmal pro Stunde tötet sich ein Mensch in Deutschland selbst. In 2020 etwa starben mit 9206 mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Mord, Totschlag und illegale Drogen zusammen.
Menschen, die sich das Leben nehmen, lassen Angehörige und Freunde in ihrem Umfeld zurück – in Trauer, Unverständnis und/oder mit Schuldgefühlen. In den vergangenen zehn Jahren waren eine halbe bis eine Million Menschen von dem Suizid eines Nahestehenden betroffen. »Die Zahlen machen es deutlich: Die Vermeidung von Suiziden ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe«, sagt Georg Fiedler, Suizidforscher und geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutschen Akademie für Suizidprävention gegenüber PTA-Forum. Wie Fiedler betont, gibt es dabei nicht die eine Präventionsmaßnahme, sondern erfolgreiche Suizidprävention erfolgt durch Maßnahmen aus verschiedenen Bereichen.
Als Kernelemente der Suizidprävention nennt er, dass zunächst jemand aus dem Umfeld – etwa Mutter, Freund, Hausarzt, PTA, Kollege, Seniorenheimbetreuerin – erkennen muss: Die Person ist suizidgefährdet. Und sie dafür gewinnen muss, sich in professionelle Hilfe zu begeben. Diese Hilfe sollte dann von einer positiven unterstützenden Beziehung zwischen Behandler und Hilfebedürftigem getragen sein.
In diesem Zusammenhang sei es wichtig, die bestehenden Angebote weiter auszubauen und untereinander zu vernetzen, so Fiedler. Auch Inhaber und Mitarbeiter einer Apotheke können diese Vernetzung leben, etwa indem sie sich informieren, welche Angebote es in der Region gibt und mit diesen Kontakt aufnehmen. An diese können sie dann hilfesuchende Angehörige oder Suizidgefährdete verweisen.
Zu weiteren Elementen der Suizidprävention zählt, dass Suizidmittel nur eingeschränkt verfügbar, Bauwerke wie Häuser (Fenster), Brücken, Bahngleise gesichert sind und auch, dass die Medien verantwortungsvoll mit der Suizidthematik umgehen, ebenso dass die Gesellschaft sie wahrnimmt und sich enttabuisiert ernsthaft mit ihr auseinandersetzt.
Fiedler erklärt: Die Suizidrate in einer Gesellschaft sei niedrig, wenn suizidpräventive Faktoren die suizidfördernden überwiegen. Suizidpräventiv wirkten Enttabuisierung, Präventionsprogramme für Risikogruppen, eine niedrigschwellige Verfügbarkeit der psychiatrischen Versorgung und Beratungsangebote, gute medizinische Versorgung, angemessene Medienberichterstattung und eine jüngere Gesellschaft. Dagegen förderten etwa hohe Arbeitslosigkeit, verfügbare Suizidmittel, ein eingeschränkter Zugang zur psychiatrischen Versorgung und fehlende Beratungsangebote, schlechte medizinische Versorgung, unangemessene Medienberichterstattung und eine ältere Gesellschaft Suizide.
Neben einem gesamtgesellschaftlich suizidpräventiven Rahmen und einem funktionierenden Netzwerk samt zentraler bundesweit einheitlicher Rufnummer für die Information über Hilfen und deren Koordination sind auch Mittel zur Finanzierung suizidpräventiver Maßnahmen nötig. Wie Fiedler erklärt, erfolgt die staatliche Unterstützung aus mehreren Fördertöpfen, verteilt auf verschiedene Ministerien wie das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) oder das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).
Diese staatliche Förderung ist bisher meist projektbezogen und zeitlich begrenzt. Die Folge: Irgendwann wird das Projekt komplett beendet oder läuft auf Sparflamme weiter. »Der Bund erwartet, dass die Kommunen das Projekt weiterfinanzieren, die haben aber oft kein oder nicht ausreichend Geld dafür«, sagt Fiedler. Damit verlieren auf der einen Seite Suizidgefährdete wichtige Anlaufstellen. Auf der anderen Seite bedeutet das Aus etwa einer Beratungsstelle oder eines Forschungsprojektes für gut ausgebildete Suizidpräventionsexperten Perspektivlosigkeit für die Jobwahl in diesem Bereich und für die Gesellschaft ein Verlust an suizidpräventivem Wissen.
Ein Beispiel für eine nicht nachhaltige Finanzierung ist die für [U25]. Dieser Online-Beratungsdienst für Menschen unter 25 Jahren startete 2002 in Freiburg und ist inzwischen auf elf Standorte in Deutschland gewachsen. Seit 2012 wird er gemeinsam mit dem Deutschen Caritasverband betrieben. Das Besondere: Der Hilfesuchende eröffnet mit einem Nickname einen Account bei [U25] und schreibt den Beratern. Diese sind sogenannte Peers, also speziell ausgebildete ehrenamtlich arbeitende Menschen im Alter von 16 bis 25 Jahren, die binnen zwei Werktagen antworten und wenn gewünscht für längere Zeit in Kontakt mit dem Betroffenen bleiben. Sie werden von hauptamtlichen Experten im Hintergrund angeleitet und betreut.
Derzeit erhalte [U25] bundesweit pro Woche 40 bis 50 Anfragen von Hilfesuchenden, wie die Bundeskoordinatorin des Hilfsdienstes, Diana Kotte, PTA-Forum mitteilt. Vor allem das BMFSFJ finanziert [U25]. Ende 2024 ist aber Schluss damit und eine andere Geldquelle nicht in Sicht. »Das wirkt sinnfrei vor dem Hintergrund, dass der Bundestag diesen Juli den Antrag ›Suizidprävention stärken‹ nahezu einstimmig angenommen hat«, so Kotte.
»An wen sollen sich die suizidgefährdeten Jugendlichen wenden, wenn es uns nicht mehr gibt? Selbst wenn nun eine zentrale Informations- und Koordinationsstelle über alle bestehenden lokalen und überregionalen suizidpräventiven Angebote eingerichtet wird, wenn die Angebote mangels Finanzierung wegbrechen, ist den Betroffenen kein Stück weitergeholfen«, sagt Kotte. Sie sieht [U25] als Brückenangebot und Ergänzung zur Therapie. Dabei argumentiert sie auch mit dem Faktor Kosten: [U25] rechnet mit 300 Euro pro Hilfesuchendem, egal wie oft und lange er begleitet wird. »Wir sind wesentlich günstiger als eine stationäre Therapie und schwächen gleichzeitig mit unserer Arbeit in vielen Fällen die Krise der Hilfesuchenden ab, so dass es erst gar keiner stationären Therapie bedarf.« Zudem beträgt die Wartezeit auf einen Therapieplatz in einer psychiatrischen Einrichtung für Kinder und Jugendliche aktuell bis zu zehn Monate. Die Suche stellt die Betroffenen vor große Hürden: Sie müssen sich den Eltern gegenüber öffnen und sich gemeinsam mit ihnen um einen Platz kümmern.
Haben Sie das Gefühl, dass Sie nicht mehr weiterleben möchten oder denken Sie daran, Ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen? Reden hilft und entlastet. Die Telefonseelsorge hat langjährige Erfahrung in der Beratung von Menschen in suizidalen Krisen und bietet Ihnen Hilfe und Beratung rund um die Uhr am Telefon (kostenfrei) sowie online per E-Mail und Chat an. Rufen Sie an unter den Telefonnummern 0800/1110111 und 0800/1110222 oder melden Sie sich unter www.telefonseelsorge.de. Die Beratung erfolgt anonym.
Was läuft also schief in der Politik beim Thema Suizidprävention? PTA-Forum hat nachgefragt bei Professor Dr. Reinhard Lindner, Co-Leiter des Nationalen Suizidpräventionsprogrammes für Deutschland (NaSPro), dem bundesweiten Fachnetzwerk für Austausch und Wissensvermittlung zu Suizid, Suizidalität und Suizidprävention. Wie Lindner berichtet, begannen nach der Entschließung des Deutschen Bundestags zur Suizidprävention am 6. Juli 2023 intensive Vorbereitungen sowohl zur Entwicklung einer nationalen Suizidpräventionsstrategie im BMG und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) als auch Aktivitäten der Parlamentarier des Bundestags zur Gründung eines Arbeitskreises Suizidprävention. Dieser soll gesetzliche Regelungen zur Suizidprävention bis Juli 2024 erarbeiten und zur Verabschiedung bringen. »Gegenüber dieser positiven Entwicklung steht leider, dass die Suizidprävention im Haushalt 2024 noch nicht verankert ist. Dies hat zur Folge, dass wichtige Institutionen der Suizidprävention in 2024 keine Förderung mehr erhalten und damit in ihrer Arbeit erheblich eingeschränkt sein werden.«
Die NaSPro und andere Organisationen fordern daher einen Fond über 20 Millionen Euro für die Suizidprävention im Bundeshaushalt 2024. »Zwar gibt es politische Unterstützung für diese Forderung. Jedoch ist dies bisher noch nicht beschlossene Sache, und die Gefahr besteht, dass die Finanzierung der im Juli 2023 beschlossenen Unterstützung der Suizidprävention sehr gering ausfällt«, sagt Lindner.
Und inwieweit werden die Experten bisher in die Stärkung der Suizidprävention durch die Regierung und das Bundesministerium für Gesundheit eingebunden? Dazu Lindner: »Es gab Gespräche mit den vom Bundesministerium für Gesundheit zur Entwicklung einer Nationalen Suizidpräventionsstrategie beauftragten Institutionen. Suizidprävention ist eine hochprofessionelle Arbeit, für die es sehr erfahrene Expertinnen und Experten gibt, die auch international anerkannt sind. Hier könnte die Zusammenarbeit intensiviert werden.«
Experten der Institutionen der Suizidprävention fordern 20 Millionen Euro für den Bundeshaushalt 2024, um einen Einstieg in die Umsetzung folgender Maßnahmen zu ermöglichen: