Hochsensibilität verstehen |
Hochsensible sind durch all die Eindrücke, Gefühle und Gedanken leichter überfordert, gestresst und erschöpft. / Foto: Getty Images/mixetto
»Ich passe nicht in diese Welt, ich bin so anders als die anderen.« So oder so ähnlich empfinden viele Hochsensible. Das sind je nach Studie zehn bis dreißig Prozent aller Menschen. Grelles Licht, schöne Musik, die Stimmung der Mitmenschen: Betroffene nehmen positive und negative Reize intensiver wahr, verarbeiten diese auch tiefer und sind davon nicht selten überfordert und erschöpft.
Ganz wichtig: Hochsensibilität ist keine psychische Störung, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal. Somit gibt es auch keine klaren Kriterien, was Hochsensibilität genau ist. Zurückzuführen ist der Begriff auf die US-amerikanische Psychologin Elaine N. Aron. Sie forscht seit den 1990er Jahren zu dem Thema und hat einen Fragebogen entwickelt, mit dem sich herausfinden lässt, ob jemand hochsensibel ist.
Demnach machen vier Kategorien eine Hochsensibilität aus: die sensorische Empfindlichkeit, die gründliche Informationsverarbeitung, die emotionale Intensität und die Übererregbarkeit. Das klingt erst mal abstrakt. Anna Schmidt erklärt, was es damit konkret auf sich hat. Sie ist Psychologin und berät in ihrer Praxis in Lüneburg schwerpunktmäßig Hochsensible.
Der Begriff der Hochsensibilität ist allerdings umstritten. Kritiker meinen, damit würden Menschen, die nicht hochsensibel sind, als unsensibel abgestempelt. Andere halten Hochsensible einfach für neurotisch, also für emotional labil. Und wieder andere bemängeln, dass die Feststellung von Hochsensibilität ausschließlich auf der Selbsteinschätzung der Betroffenen beruht.
Marcus Bürger hat jedoch keinen Zweifel daran, dass es Hochsensibilität gibt. Er ist Mitarbeiter an der Hamburger Helmut-Schmidt-Universität und forscht zum Thema. Aber er findet den deutschen Begriff nicht ganz passend. Jemand, der sensibel sei, werde oft als »Sensibelchen« abgestempelt.
Er nutzt lieber die englischen Bezeichnungen »Sensory Processing Sensitivity« (SPS) und »Highly Sensitive Person« (HSP). »›Sensitive‹ bedeutet so viel wie empfindsam, das wird im deutschen Sprachgebrauch als weniger wertend verstanden«, sagt er. Also sensorische Verarbeitungssensitivität statt Hochsensibilität und hoch empfindsame statt hochsensible Person, so könnte man die englischen Begriffe übersetzen.
Laut Elaine Aron kommen bei Hochsensiblen alle vier genannten Merkmale zusammen. Andere Forschende nehmen an, dass es unter Betroffenen durchaus sehr unterschiedliche Persönlichkeitsprofile gibt. Zu ihnen gehört Marcus Bürger. »Die Übererregbarkeit muss nicht bei allen eine dominierende Rolle spielen«, gibt er ein Beispiel.
Es wird angenommen, dass Hochsensibilität genetisch bedingt ist. Laut Bürger können aber auch traumatische Erlebnisse eine Hochsensibilität begünstigen. Wie Betroffene mit ihrer Empfindsamkeit zurechtkommen, hängt unter anderem vom Verhalten ihrer Eltern ab. Gab es in der frühen Kindheit Verständnis und Unterstützung? Das stärkt Hochsensible – sie werden ihre Besonderheit eher als Gabe wahrnehmen.
»Ein Mangel an Zuwendung und Sicherheit in frühen Entwicklungsphasen führt hingegen zu einer höheren Vulnerabilität«, sagt Marcus Bürger. Diejenigen werden eher dazu neigen, sich durch ihre Hochsensibilität überfordert und erschöpft zu fühlen.
Für viele Betroffene, die sich an Anna Schmidt wenden, bedeutet ihre Hochsensibilität Stress. Ihnen kommt das Leben oft anstrengend und schwer vor. »Viele Betroffene haben einen Hang zum Grübeln, zweifeln an sich selbst und ihre starken Gefühle machen es ihnen oft schwer, sich abzugrenzen«, sagt die Psychologin. »Sie sind oft so sehr auf das Wohl anderer bedacht, dass sie den Draht zu sich selbst verlieren.«
Kein Wunder, dass Hochsensibilität und psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen zusammenzuhängen scheinen. Damit es so weit nicht kommt, ist es wichtig, dass Betroffene ihre Bedürfnisse kennen und berücksichtigen. Laut Anna Schmidt ist zunächst wichtig, sich zu informieren. »Für viele ist es schon sehr hilfreich, einordnen zu können, warum sie so sind, wie sie sind.«
Entlastend ist auch die Erkenntnis, nicht der einzige Mensch zu sein, dem es so geht. Sich selbst anzunehmen und Mitgefühl mit sich selbst zu haben, ist ein weiterer Punkt. Hier kann helfen, sich die Vorzüge klarzumachen: Hochsensibilität ermöglicht zum Beispiel besonders genussvolle Momente, tiefe Beziehungen und komplexes Denken.
Hochsensible sollten sich ein Umfeld schaffen, in dem sie gut zurechtkommen. Etwa einen Job suchen, der zum eigenen Energielevel passt. Pausen einplanen, Einflüsse reduzieren. Gut überlegen, wie oft sie sich neuen, herausfordernden Situationen aussetzen. Aber auch das Nein-Sagen lernen und die eigenen Bedürfnisse äußern.
Was außerdem hilft: Viel Zeit in der Natur oder mit Tieren zu verbringen, genug zu schlafen, sich gesund zu ernähren, sich zu bewegen und Sport zu machen. Auch Meditation oder Entspannungsübungen können ein Weg sein, mit der eigenen Hochsensibilität gut zu leben.
Hochsensible Menschen stellen die Bedürfnisse anderer Menschen oft über die eigenen. Doch sie sollten auch ihre Grenzen im Blick haben. Das fällt nicht immer leicht. Die Psychologin Anna Schmidt hat einen Tipp, was helfen kann. Sie berät in ihrer Praxis in Lüneburg schwerpunktmäßig Hochsensible.
So können sich hochsensible Menschen folgende Frage stellen: Was bedeutet es für mich, wenn ich den Bedürfnissen der anderen den Vorrang gebe? Die Antwort könnte dann in etwa so lauten: Ich bekomme zeitliche Schwierigkeiten mit den eigenen To-dos oder muss auf eine Erholungspause verzichten.
Weiter kann man sich dann fragen: Was heißt es für mich, wenn ich so weitermache? Das Resultat könnte Erschöpfung sein. Oder Unzufriedenheit, weil man seine eigenen Bedürfnisse hinten anstellt. Oder Stress, weil der Tag zu wenig Stunden hat für all das, was man sich aufgehalst hat.
Wie auch immer die Antwort lautet: Es kann fatal sein, die eigenen Grenzen nicht zu achten. Das zu wissen, kann es gerade Hochsensiblen leichter machen, auch mal Nein zu sagen und sich von den Bedürfnissen anderer abzugrenzen.