Wieso werden seit 2021 so viel mehr Menschen mit ADHS diagnostiziert als zuvor? Die Studienautoren haben dafür mehrere Erklärungen. Zum einen sei es möglich, dass in der Gesellschaft eine höhere Sensibilisierung für die Krankheit herrsche. Zum anderen sei 2019 ein neuer Diagnosecode eingeführt worden. Fälle, die es möglicherweise schon früher gab, könnten dadurch nun sichtbarer sein, weil sie besser erfasst werden. Ein weiterer Faktor könnten die Corona-Pandemie und die Auswirkungen auf die Psyche sein.
Da ADHS mit einem erheblichen Leidensdruck verbunden sei und Auswirkungen auf die Lebensqualität habe, schätzen die Autoren den Anstieg der Neudiagnosen als positiv ein – weil dadurch mehr Betroffene eine Therapie machten.
In den sozialen Medien bekomme die Krankheit viel Aufmerksamkeit, sagte Matthies. »Dabei besteht auch die Gefahr, dass das Konzept verwässert wird. Es ist möglich, dass Menschen sich mit ADHS-typischen Eigenschaften, Merkmalen und Erfahrungsberichten identifizieren, obgleich sie nicht die diagnostischen Kriterien erfüllen.« Eine Diagnose erfordere eine ausführliche Anamnese und Beurteilung durch Fachleute.
Soziale Medien hätten zwei Seiten, sagte Alexandra Philipsen vom Universitätsklinikum Bonn. »Einerseits können Inhalte die Sensibilität für ADHS steigern. Andererseits könnten sie die Schwelle senken, sich anhand einer fälschlichen Selbstdiagnose in einer Diagnostik vorzustellen. Es wäre schön, die Aufklärung in sozialen Medien gemeinsam mit Fachleuten zu machen und zusammen Formate zu schaffen.«
Typische ADHS-Symptome sind starke Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, starke Impulsivität und ausgeprägte körperliche Unruhe (Hyperaktivität). Die Symptome können unterschiedlich stark sein und müssen nicht alle gleichzeitig auftreten. Damit wirklich von ADHS gesprochen werden kann, müssen die Auffälligkeiten mindestens sechs Monate und in verschiedenen Lebensbereichen auftreten und den Betroffenen beeinträchtigen, wie das Gesundheitsministerium erklärt.
Nicht jeder Mensch mit ADHS-Diagnose brauche eine Therapie, meint Andreas Reif vom Universitätsklinikum Frankfurt. Wenn eine Behandlung nötig ist, sei im Erwachsenenalter eine Therapie mit Medikamenten seiner Ansicht nach die erste Wahl.
Wie stark die Rate der Neudiagnose weiter steigt, hängt Reif zufolge davon ab, inwieweit die Patienten bereits im Kindes- und Jugendalter korrekt identifiziert werden. In den USA etwa näherten sich der Anteil der Menschen mit ADHS und der Anteil der Menschen mit ADHS-Diagnose immer weiter an. »Das ist auch das Ende einer Steigerung der Diagnoseraten – eine solche Annäherung würde ich auch für Deutschland erwarten.« Experten gehen davon aus, dass etwa 2,5 Prozent der Erwachsenen in Deutschland ADHS haben.