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Multimorbidität

Immer mehr Medikamente

Multimorbidität nimmt mit dem Alter zu und macht die medikamentöse Versorgung zur Herausforderung. Wechselwirkungen, verstärkte Nebenwirkungen und fehlende Therapietreue sind eher die Regel als eine Ausnahme. Gleichzeitig fehlt es an evidenzbasierten Therapieempfehlungen.
Carina Steyer
24.05.2023  15:30 Uhr

Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) definiert Multimorbidität als das Vorliegen von mindestens drei chronischen Erkrankungen bei einem Patienten. Andere Definitionen sprechen bereits ab zwei chronischen Erkrankungen, die in ihrer Auswirkung auf den Organismus und die Notwendigkeit der Behandlung gleichwertig sind, von Multimorbidität. Liegt ein Ungleichgewicht vor, handelt es sich um eine Komorbidität. Verschiedene medizinische Fachrichtungen können zwei Erkrankungen jedoch durchaus anders gewichten. So kommt es vor, dass Psychiater bei einem Patienten mit Depression und Diabetes die Depression als Haupterkrankung und den Diabetes als Komorbidität definieren, ein Allgemeinmediziner jedoch beide Erkrankungen als gleichwertig ansieht. Unterschiedliche Definitionen und Auslegungen machen es schwer, die Prävalenz der Multimorbidität zu quantifizieren. Es wird angenommen, dass nahezu die Hälfte der 50-Jährigen mindestens eine chronische Erkrankung aufweist. Im Alter von 65 Jahren erfüllen die meisten Menschen die Kriterien einer Multimorbidität. Begünstigend für diese Entwicklung ist zum einen das Alter, aber auch weitere Faktoren wie Übergewicht und Adipositas, chronische psychische Probleme sowie soziale Faktoren wie Bildung und Einkommen spielen eine Rolle.

Multimorbidität bleibt nicht folgenlos. Sie geht mit häufigeren Krankenhausaufnahmen, postoperativen Komplikationen und einer längeren Krankenhausliegezeit einher. Das Risiko für eine Pflegebedürftigkeit oder Institutionalisierung nach einem Krankenhausaufenthalt ist erhöht. Mit zunehmender Morbidität steigt zudem die Zahl der verordneten Arzneimittel an. So ist aus der Berliner Altersstudie bekannt, dass multimorbide über 70-Jährige im Durchschnitt drei verschiedene Medikamente pro Tag einnehmen. Insgesamt 35 Prozent der über 70-Jährigen erhalten fünf bis acht Medikamente und 15 Prozent mehr als 13 verschiedene Medikamente pro Tag.

Polypharmazie setzt nicht selten einen Kreislauf in Gang, aus dem Patienten nur schwer aussteigen können. Je mehr Medikamente pro Tag eingenommen werden, umso höher sind die unerwünschten Neben- und Wechselwirkungen. Studien zufolge geht die Einnahme von mehr als sechs Medikamenten mit bis zu 25 Prozent unerwünschten Nebenwirkungen einher. Häufig werden diese nicht als solche erkannt und mit weiteren Arzneimitteln therapiert. Das Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen steigt abermals, eine Verschreibungskaskade wird in Gang gesetzt. Zehn bis 30 Prozent der Krankenhauseinweisungen erfolgen bei multimorbiden Patienten aufgrund einer unerwünschten Arzneimittelwirkung. Diese werden in bis zu 80 Prozent der Fälle als schwerwiegend bewertet. Treten bei älteren Menschen Nebenwirkungen wie Verwirrung, Sturzneigung und Inkontinenz auf, können diese schnell mit geriatrischen Symptomen verwechselt werden.

Anzahl reduzieren

Schätzungen gehen davon aus, dass 20 bis 50 Prozent der älteren, multimorbiden Patienten verordnete Medikamente nicht richtig einnehmen. Gründe dafür sind die hohe Anzahl der Tabletten, Unsicherheiten bei der Dosierung, Nebenwirkungen und Arzneiunverträglichkeiten sowie ein wenig spürbarer Effekt bei Dauermedikationen. Darüber hinaus steigt mit der Zahl der eingenommenen Arzneimittel auch die Verwechslungsgefahr. Viele Patienten wissen am Ende nicht mehr, wofür sie welche Tabletten einnehmen.

Inzwischen wird häufig geraten, zu prüfen, ob ältere Patienten statt von vielen von weniger Arzneimitteln profitieren könnten. So konnte der israelische Geriater Dorn Garfinkel bereits 2010 nachweisen, dass bei geriatrischen Patienten bis zu 50 Prozent der Arzneimittel abgesetzt werden können, ohne dass sich der Zustand verschlechtert. Bei den meisten Studienteilnehmern verbesserte sich der Zustand sogar.

Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sich des Themas angenommen. In den »Technical Series of Safer Primary Care« finden sich Strategieempfehlungen und praxisorientierte Hinweise für die Versorgung von Menschen mit Multimorbidität. Interessant für PTA und Apotheker sind in erster Linie die Hinweise, Therapieanweisungen zu vereinfachen, Medikationslisten zu aktualisieren und den Einsatz technologischer Hilfen zur Erinnerung hinsichtlich des Zeitpunkts, der Art und Dosis des Medikaments zu empfehlen. Geraten wird außerdem zu einer Zusammenarbeit von Ärzten, Pflegekräften, Therapeuten, Apothekern und anderen Akteuren in einem multidisziplinären Team einschließlich gemeinsam abgestimmter Behandlungspläne.

Potenziell inadäquat

Herausfordernd für die Behandlung multimorbider, älterer Patienten ist die Tatsache, dass kaum evidenzbasierte Therapieempfehlungen existieren. Die Anwendung von Leitlinien, die sich auf einzelne Erkrankungen beziehen, können bei multimorbiden Patienten zu unerwünschten Ereignissen, widersprüchlichen Behandlungsstrategien und Polypharmazie mit bis zu 30 verschiedenen Medikamenten pro Tag führen. Bei älteren Patienten treten aufgrund der altersbedingten Veränderungen in der Pharmakokinetik und Pharmakodynamik zusätzlich häufiger unerwünschte Arzneimittelereignisse auf. Gleichzeitig sind beide Gruppen von den meisten klinischen Studien ausgeschlossen.

Um die Arzneimitteltherapie dennoch zu verbessern, wurden sogenannte Negativlisten erstellt. Hier sind Wirkstoffe und Wirkstoffgruppen zusammengefasst, die bei älteren Menschen als potenziell inadäquate Medikamente (PIM) gelten. Neben internationalen Listen existieren rein auf Deutschland bezogene. Die FORTA-Liste, (Fit for The Aged), wurde von der medizinischen Fakultät Mannheim entwickelt. Sie listet die am häufigsten chronisch verwendeten Medikamente nach Indikationsgebiet und Alterstauglichkeit in vier Kategorien (A bis D) auf.

Die Priscus-Liste ist im Rahmen des Aktionsplans Arzneimitteltherapiesicherheit 2008/2009 des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) auf der Grundlage von selektiver Literaturrecherche, Analyse internationaler PIM-Listen und strukturierter Expertenbefragung entstanden. Hier werden neben ungeeigneten Wirkstoffen und Wirkstoffgruppen auch mögliche Alternativen, Hinweise zum Monitoring (zum Beispiel Nierenfunktion oder Elektrolyte) und zu vermeidenden Komedikationen sowie Komorbiditäten aufgelistet. In der ersten Version (Priscus-Liste 1.0) wurden 83 Arzneistoffklassen als potenziell inadäquat für ältere Patienten bewertet, weitere 46 konnten nicht eindeutig eingestuft werden. Die neue Version (Priscus-Liste 2.0) wurde um 133 Wirkstoffe erweitert. Für einige Wirkstoffe werden nun auch eine maximale Therapiedauer und eine Dosierungshöchstgrenze angegeben. Zudem wird ein Grund für die Einstufung als PIM angegeben. Die Priscus-Liste kann hier kostenfrei heruntergeladen werden.

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