Inositol als Push für den Stoffwechsel? |
Diabetiker, die antidiabetisch therapiert werden, fragen am besten erst den Diabetologen, ob sie Inositol als NEM einnehmen dürfen, denn es könnte eine den Blutzucker senkende Wirkung haben. / Foto: Adobe Stock/zakiroff
Inositol erscheint auf den ersten Blick als ein simpel gebautes, zyklisches Molekül, das aus sechs Kohlenstoffatomen besteht. Strukturell ähnelt es der Glucose. Betrachtet der Chemiker die Verbindung jedoch genauer, entdeckt er eine Reihe komplexer stereochemischer Besonderheiten. Zur Inositol-Familie zählen neun Vertreter, von denen Myo-Inositol der wichtigste ist. Die Substanzen, insbesondere Myo-Inositol, spielen bei einigen Stoffwechselvorgängen eine zentrale Rolle.
Aus Myo-Inositol stellt der Körper zum Beispiel Phosphatidylinositol her. Dabei handelt es sich um einen wichtigen Bestandteil von Zellmembranen. Weiterhin dienen die Zuckeralkohole, die unter den Sammelbegriff Inositol fallen, als Grundbaustoff für einige sekundäre Botenstoffe, die an der zellulären Signalübertragung beteiligt sind. Entdeckt wurde Inositol vor über 150 Jahren und wegen seines süßen Geschmacks »Inosit« genannt. 1887 isolierte der französische Chemiker und Pflanzenphysiologe Léon Maquenne die Substanz zunächst aus Blättern, später nutzte er dafür Pferdeurin.
Früher dachte man, dass der Stoff nur über die Ernährung aufgenommen werden könnte und zählte ihn zu den B-Vitaminen. Auch heute noch findet man Inositol bisweilen unter der Bezeichnung Vitamin B8. Der Körper kann die Substanz jedoch aus Glucose selbst herstellen. Die Niere produziert etwa 2 g davon täglich. Die höchste Konzentration findet sich im Gehirn. Dort unterstützt Inositol, dass einige Neurotransmitter und Hormone an ihre Rezeptoren binden.
Inositol beziehungsweise seine Phosphate kommen in unterschiedlichen Formen sowohl in Pflanzen als auch in tierischem Gewebe vor. Besonders hohe Gehalte finden sich in Rinderleber und Rinderherz. Sie sind auch Bestandteil von Rinder- und Schweinefleisch. Unter den pflanzlichen Nahrungsmitteln weisen Zitrusfrüchte recht hohe Mengen an Myo-Inositol auf. Weitere vegane Quellen sind Ölsaaten, frische Wal- und Haselnüsse, Hülsenfrüchte, Vollkorngetreide und bestimmte Gemüse wie Blumenkohl oder Erbsen.
Verschiedene Inositole werden als Nahrungsergänzungsmittel (NEM) in Form von Pulvern oder Kapseln angeboten. Der Zuckeralkohol hat einen süßen Eigengeschmack und etwa die Hälfte der Süßkraft von Haushaltszucker. Das Pulver können Anwender daher in Speisen und Getränke einrühren. Eine offiziell empfohlene Tagesdosis existiert für Inositol nicht. Die Angaben variieren, je nachdem, welche Indikation die Anwendung hat. In einigen Produkten ist Inositol mit anderen wirksamen Substanzen wie Folsäure oder Cholin kombiniert.
Werbeaussagen für die Supplemente suggerieren den Anwendern unter anderem positive Effekte auf das metabolische Syndrom und das polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS). Unter bestimmten Bedingungen soll die Einnahme bei Schwangeren das Risiko einer Frühgeburt verringern. Untersuchungen weisen darauf hin, dass Inositol bei verschiedenen Erkrankungen wie Panikstörungen, Depressionen, Zwangsstörung, Schlaflosigkeit, bipolarer Störung oder posttraumatischer Belastungsstörung einen günstigen Einfluss haben könnte. Allerdings gibt es aktuell keinen von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority, EFSA) genehmigten Health Claim, mit dem Hersteller von NEM für Inositol werben dürfen. Zwei beantragte gesundheitsbezogene Aussagen, nämlich dass die Substanz zur geistigen Leistungsfähigkeit beitrage und wichtig für die Funktion des Nervensystems sei, sah das Gremium als nicht ausreichend belegt an.
PCOS ist eine hormonelle Störung, die zu vergrößerten Eierstöcken mit Zysten führt und oft mit Insulinresistenz einhergeht. Etwa 5 bis 10 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter leiden darunter. Die Ernährungsweise und den Lebensstil zu ändern, sind wichtige therapeutische Maßnahmen. Ferner gibt es Hinweise, dass die Einnahme von Inositol günstige Auswirkungen haben und zum Beispiel die Qualität der Eierstöcke bei den Patientinnen verbessern und dadurch die Fruchtbarkeit steigern könnte.
In einer kleinen klinischen Studie mit 22 Frauen erhöhten 1200 mg Inositol die Wirkung von Insulin und der Eisprung funktionierte besser. Inositol senkte auch die Androgenkonzentration im Serum, die bei PCOS krankhaft erhöht ist, sowie den Blutdruck und die Triglyceridkonzentration im Plasma. Der Einfluss auf den Blutzuckerhaushalt erscheint plausibel, da Inositol an zahlreichen biologischen Prozessen beteiligt ist, durch die unter anderem die Insulinsensitivität beeinflusst wird.
Eine systematische Überprüfung aus 2023 stützt die These, dass sich Inositol günstig auf die mit PCOS verbundenen endokrinometabolischen Störungen auswirken könnte. Hier wurde geprüft, ob die Einnahme eine mögliche Alternative zu Metformin bei der Behandlung von PCOS sein könnte. Die Wissenschaftler schlossen 26 randomisierte kontrollierte klinische Studien (RCTs) mit insgesamt 1691 Patientinnen ein (806 in der Inositol-Gruppe, 311 in der Placebo-Gruppe und 509 in der Metformin-Gruppe). In den meisten Endpunkten war Inositol Metformin nicht unterlegen, beispielsweise, wenn es um einen regelmäßigen Menstruationszyklus ging.
Zu beachten ist, dass es relevante Unterschiede zwischen Inositol-NEM gibt und in Studien nicht immer dieselben Formen und Qualitäten geprüft wurden. Im menschlichen Plasma besteht ein physiologisches Verhältnis von Myo-Inositol zu einem weiteren Isomer, dem D-Chiro-Inositol, von etwa 40:1. Dieses Verhältnis 40:1 von Myo-Inositol zu D-Chiro-Inositol erwies sich als geeignet, den Eisprung bei Frauen mit PCOS wiederherzustellen. Andere Mischungen oder enthaltene Begleitstoffe könnten die Wirkung jedoch abschwächen oder negative Effekte mitbringen.
Einige werdende Mütter nehmen Inositol mit Folsäure ein, um das Risiko einer Frühgeburt zu vermindern. Hinweise auf diesen schützenden Effekt gibt es für Frauen, die während der Schwangerschaft ein erhöhtes Risiko haben, an Diabetes zu erkranken. Das ist das Ergebnis eines Reviews aus 2021. Hier schlussfolgerten die Autoren, dass eine Myo-Inositol-Supplementierung in erster Linie Schwangerschaftsdiabetes vorbeugen, aber auch die Inzidenz von Frühgeburten senken könnte.
Ob eine vorgeburtliche Nahrungsergänzung mit Myo-Inositol für Mutter und Fetus sicher und wirksam bei der Vorbeugung von Schwangerschaftsdiabetes ist, untersuchten Wissenschaftler in einem 2023 aktualisierten Review der Cochrane Collaboration. Sie schlossen sieben RCTs mit über 1319 Frauen ein, die zu Beginn der Studien in der zehnten bis 24. Woche schwanger waren. Die Autoren schlussfolgerten, dass Myo-Inositol das Auftreten von Schwangerschaftsdiabetes, hypertensiven Schwangerschaftsstörungen und Frühgeburten verringerte. Die Erkenntnisse basierten jedoch auf kleinen heterogenen Studien. Unklar blieb, wie sich die Supplementation auf den Säugling auswirkte. Auch fehlten zahlreiche Daten zu Auswirkungen auf die Mutter etwa auf die Gewichtszunahme während der Schwangerschaft, postnatale Depressionen oder die Entwicklung eines späteren Typ-2-Diabetes.
Die Einnahme von NEM mit Inositol soll Insulinresistenz, Blutfettwerte und Blutdruck bei Menschen mit metabolischem Syndrom verbessern. Es liegen dazu einige kleinere Studien mit Myo-Inositol bei menopausalen Frauen mit metabolischem Syndrom vor. Eine tägliche orale Verabreichung verbesserte darin Parameter wie den Glucose- und Insulinspiegel, den HOMA-Index zum Nachweis der Insulinresistenz, die Triglyceride, das HDL-Cholesterol und Gesamtcholesterol sowie den Blutdruck signifikant. Insgesamt ist jedoch der klinische Nutzen beim metabolischen Syndrom wie auch bei PCOS noch nicht ausreichend bewiesen.
Inositol ist vermutlich auch an Stoffwechselwegen beteiligt, die bei der Pathogenese und dem Verlauf psychiatrischer Störungen eine Rolle spielen. In einer Übersichtsarbeit untersuchten Forscher 2023 die Wirkungen von Inositol auf das menschliche Gehirn. Ziel war es, mögliche Anwendungen, aber auch Grenzen seiner Verwendung bei psychiatrischen Störungen festzustellen. Als Monotherapie oder zusätzlich zur herkömmlichen Medikation schien sich die Einnahme von Inositol jedoch weder auf Stimmungsstörungen noch auf psychotische Störungen positiv auszuwirken. Einzig für die Behandlung von Panikstörungen zeigten sich Hinweise auf einen günstigen Effekt. Ein systematischer Einsatz von Inositol in der klinischen Praxis kann daher nicht empfohlen werden. Es ist erst einmal weitere Grundlagenforschung erforderlich.
Für die meisten Erwachsenen scheint die Anwendung jedoch zumindest sicher zu sein. Überdosierungen äußern sich im Gastrointestinaltrakt mit Blähungen, Durchfall und Übelkeit. Wenn Frauen das NEM kurzzeitig während der Schwangerschaft einnehmen, gibt es ebenfalls keine Hinweise auf schädliche Wirkungen. Für die Stillzeit liegen keine ausreichenden Informationen vor. Es können möglicherweise Interaktionen mit Arzneimitteln auftreten. Hier ist besonders an Antidiabetika zu denken, da Inositol den Blutzuckerspiegel senken könnte. Die Einnahme zusammen mit Diabetes-Medikamenten führt möglicherweise dazu, dass die Glukosekonzentration im Blut zu stark absinkt. Patienten, die dennoch das NEM anwenden wollen, müssen ihren Blutzuckerspiegel zunächst häufiger messen als sonst üblich.