Ist Blutzuckermessen für Gesunde sinnvoll? |
Isabel Weinert |
04.06.2024 08:30 Uhr |
Für Diabetiker sind kontinuierliche Glucosemesssysteme ein enormer Gewinn an Lebensqualität. Für gesunde Menschen hingegen kann die dauernde Beschäftigung mit den körpereigenen Funktionen eine Belastung sein. / Foto: Adobe Stock/Dragoljub
Typ-1-Diabetiker kommen um das dauernde Messen der eigenen Blutzuckerwerte lebenslang nicht herum. Bis vor wenigen Jahren mussten sie sich dazu mehrmals täglich in ihre Fingerkuppen piksen. Je nach Diabetesdauer kamen damit bei durchschnittlich fünf Messungen pro Tag mehrere Zehntausend Pikse zusammen. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei, seit kontinuierliche Glukosemesssysteme (CGM) die Diabetestherapie bereichern. Mit ihrer Hilfe ist Blutzuckermessen ein Kinderspiel geworden. Für Typ-1-Diabetiker und viele Menschen mit Typ-2-Diabetes ein unschätzbarer Gewinn an Lebensqualität.
Bei einem gesunden Menschen liegt der Blutzucker nüchtern unter 100 mg/dl (unter 5,6 mmol/l) und zwei Stunden nach einer Mahlzeit unter 140 mg/dl (7,8 mmol/l). Isst ein gesunder Mensch eine stark kohlenhydrathaltige Mahlzeit aus einfachen Kohlenhydraten oder auch aus komplexen, die schnell in die Blutbahn gelangen, dann kann der Blutzucker auch mal sehr kurz höher ansteigen, körpereigenes Insulin senkt ihn aber rasch wieder ab.
Im Rahmen der gesundheitlichen Selbstoptimierung, vor allem auf sozialen Medien wie TikTok, Instagram und Facebook, liegt es stark im Trend, mittels CGM zu tracken, wie sich die eigenen Blutzuckerwerte im Laufe des Tages und bei Aufnahme von Mahlzeiten verhalten.
Einige Influencerinnen und Influencer schreiben möglichst glatten Blutzuckerverläufen ohne größere Ausschläge nach oben oder unten gesundheitliche Vorteile zu. Die dahinterstehende Bewegung nennt sich »Glucose Revolution«. Sie propagiert als gesundheitlichen Nutzen unter anderem mehr Energie, keine Pickel, weniger Falten, Besserung hormoneller Dysbalancen, ein starkes Immunsystem, weniger Depressionen, Schutz vor Alzheimer und weniger Tumorerkrankungen.
Studien zum Einsatz von CGM-Systemen wurden vor allen Dingen mit Typ-1- und Typ-2-Diabetikern durchgeführt. Die daraus gewonnenen Aussagen lassen sich nicht einfach auf gesunde Menschen übertragen. Betrachtet man die Bedeutung hoher Glucosewerte bei Diabetikern, dann ist gesichert, dass diese schaden. Allerdings bewegen sich diese hohen Werte in Bereichen, die bei gesunden Menschen nie vorkommen. Bei Diabetikern kann der Blutzucker weit über das normale Maß hinaus nach oben gehen. Das kann auf lange Sicht jedes Organsystem, das Herz-Kreislauf-System, die Nervenbahnen stark schädigen. Gesunde Menschen haben dieses Problem krankhaft hoher Blutzuckerspitzen nicht. Ihre Blutzuckerwerte unterliegen abhängig von der Ernährung, von Infekten, von Bewegung, von Stress und bei Frauen vom Zyklus lediglich Schwankungen im Normbereich. Diabetikern hingegen können diese Faktoren den gesamten Stoffwechsel durcheinanderwirbeln.
Gesunde Menschen müssen sich nicht im Sinne eines Blutzucker-Monitorings mit einem CGM darum kümmern, wie sich ihr Blutzucker verhält. Sie merken auch selbst, wenn sie etwa nach einer süßen Mahlzeit schnell wieder richtig großen Hunger bekommen. Das hängt mit ihrer normalen, gesunden Blutzuckerregulation zusammen. Die schnell verfügbaren Kohlenhydrate lassen den Blutzucker im Rahmen des Normbereichs rasch ansteigen. Daraufhin gibt die Bauchspeicheldrüse schnell viel Insulin ab, um den Blutzucker wieder zu senken, und genau das kann Hunger auslösen.
Wer das verhindern möchte, setzt auf eine Ernährung, in der viel Süßes auf einmal oder viele schnell verfügbare Kohlenhydrate in einer Mahlzeit möglichst vermieden wird. Dann hält sich der Blutzucker im Tagesverlauf in einem engeren Rahmen auf und dieser gerade Verlauf hilft, Heißhunger zu verhindern.
Für einen glatten Blutzuckerverlauf isst man viel Gemüse, denn die darin enthaltenen Ballaststoffe können die Kohlenhydrataufnahme ins Blut verlangsamen. Bei den Kohlenhydraten gehen solche aus Vollkorn langsamer in die Blutbahn über und ebenso solche, bei denen sich sogenannte resistente Stärke ausgebildet hat. Diese Stärkeart entsteht in gekochten Kartoffeln, Nudeln und gekochtem Reis, wenn man sie vor dem Verzehr 24 Stunden aufbewahrt (bitte im Kühlschrank). Kohlenhydrate gehen auch dann langsamer ins Blut, wenn sie zusammen mit (gesunden) Fetten gegessen werden. Eiweiß und Fett verzögern den Blutzuckeranstieg.
Recht schnell in die Blutbahn gelangen Kohlenhydrate, die frisch gekocht verspeist werden, also aus Kartoffeln, Nudeln und Reis zum Beispiel, und Weißmehlprodukte. Sehr schnell solche, die Zucker jeder Art enthalten und kein Fett. Also Gummibärchen etwa steigern den Blutzucker schneller als Eis oder Schokolade es tun. Auch die Zucker aus Obst gehen recht schnell in die Blutbahn, wobei die Geschwindigkeit hier von der Obstsorte und dem Reifegrad der Frucht abhängt. Diese zuvor grob genannten Ernährungsregeln gelten jedoch insgesamt für eine gute Ernährung und zu ihrer Umsetzung bedarf es keines Blutzucker-Monitorings in Eigenregie.
Ein durch eine normale Ernährung nach aktuellen Ernährungsregeln erreichter recht gleichmäßiger Blutzuckerverlauf kann auch schlechte Laune verhindern. Die entsteht nämlich leicht, wenn Menschen lange nichts essen, ihr Blutzucker sich damit der unteren Normgrenze nähert und ihr Gehirn über zum Beispiel leichte Reizbarkeit signalisiert, dass essen jetzt angebracht wäre. Wer also vor dem Essen häufiger dazu neigt, ungehalten zu reagieren, vertagt wichtige Gespräche am besten auf die Zeit nach einer Mahlzeit.
Das Tracken des Blutzuckers könnte zu einer ungesunden Fixierung auf die eigene Ernährung führen. Zudem können Laien aus den gemessenen Werten falsche Schlüsse ziehen, denn die Blutzuckerregulation des Körpers inklusive aller möglichen Einflussgrößen ist ausgesprochen komplex. Menschen, die zur Zwanghaftigkeit neigen, könnten versucht sein, den aktuellen Blutzuckerwert ständig nachzuschauen und sich selbst damit im Ernährungs- und sonstigen Verhalten stark einzuschränken und zu belasten. Die permanente Überwachung von Körperfunktionen im Zusammenhang mit der Ernährung könnte bei Menschen mit Magersucht oder Orthorexie deren Erkrankung zusätzlich befördern.
Für zwei Gruppen könnte es hilfreich sein, den Blutzucker zu monitoren. Das sind zum einen Leistungssportler, für die die eigene Leistungsfähigkeit im Zusammenhang mit verschiedenen Faktoren eine ganz entscheidende Rolle spielt. Zum anderen könnten möglicherweise auch Menschen mit einem Prädiabetes davon profitieren. Dazu existieren allerdings noch keine validen Daten.
Als Prädiabetes bezeichnet man eine Vorstufe eines Typ-2-Diabetes und damit einen Zustand, bei dem die Blutzuckerwerte zwischen denen gesunder Menschen und denjenigen bei Diabetikern liegen. Betroffene fühlen sich in der Regel gesund, der leicht erhöhte Blutzucker kann aber bereits Schaden anrichten. Ein Prädiabetes tritt vor allem bei Menschen auf, in deren Familie Fälle von Typ-2-Diabetes bekannt sind und/oder die an Adipositas leiden. Prädiabetes geht nicht zwangsläufig in einen manifesten Diabetes über und kann sich bei entsprechender Ernährung, Bewegung und Gewichtsreduktion auch wieder zurückbilden. /
Nüchternblutzucker laut American Diabetes Association (ADA)
Glukosetoleranzwert nach Trinken einer standardisierten Zuckerlösung beim Arzt
Langzeitblutzucker (HbA1c)