Ist das Kontaktverbot überflüssig? |
Homburg geht von weiteren falschen Voraussetzungen aus. Er suggeriert zum Beispiel, die Beschlüsse der Bundesregierung vom 22. März hätten die Wirtschaft gewissermaßen lahmgelegt. Auch das ist nicht der Fall. Großkonzerne wie Daimler und VW hatten schon in der Woche zuvor Fabriken geschlossen. Den Autobauern waren Absatzmärkte weggebrochen, außerdem hatten sie Lieferschwierigkeiten etwa wegen der Lage in Italien und China. Ausschlaggebend waren auch Sorgen um die Ansteckungsgefahr für die Mitarbeiter. Viele Konzerne in Deutschland schlossen also nicht, weil der Staat es angeblich so anordnete, sondern weil die Produktion im bisherigen Umfang nicht mehr möglich oder wirtschaftlich nicht sinnvoll war.
Aber was ist nun mit den Maßnahmen, die ab dem 23. März galten: Waren sie so sinnlos, wie Homburg behauptet? Der Statistiker Helmut Küchenhoff aus München widerspricht entschieden, dass die RKI-Grafik das hergibt. »Die Aussage, dass man allein aus der Reproduktionszahl die Unwirksamkeit der Maßnahmen ableiten kann, ist einfach nicht richtig. Das ist eine falsche Interpretation der Grafik.«
Warum aber blieb die Reproduktionszahl in Deutschland etwa auf dem gleichen Niveau, seitdem die Kontaktsperre in Kraft ist? Das RKI verweist unter anderem auf mehrere Ausbrüche in Pflege- und Altenheimen Ende März. Sobald sich das Virus dort erst mal ausbreitet, lässt sich dem auch mit den derzeit geltenden Kontaktbeschränkungen kaum begegnen. Selbst wenn dann die Reproduktionszahl zur gleichen Zeit andernorts sinkt, bleibt sie im Mittel etwa gleich. Laut RKI werden durch das Kontaktverbot die Ansteckungen zwischen verschiedenen Haushalten verringert.
Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation mahnt ebenfalls davor, die Daten leichtfertig zu interpretieren: »Es ist sehr schwierig, allein anhand dieser Grafik Ursache und Wirkung abzulesen.« Faktoren wie Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen und andere ließen sich nicht so leicht auseinandernehmen. Ihren eigenen Berechnungen zufolge zeige sich eine klare Wirkung der Kontaktsperre vom 22. März.
Der R-Wert ist außerdem ein bundesweiter Durchschnitt. Er überdeckt, dass es regional große Unterschiede geben kann. Ein exponentielles Wachstum der Infiziertenzahl ist allerdings immer gefährlich, egal ob auf Bundes-, Landes- oder Kreisebene.
Viele Epidemiologen sehen es als sinnvoll an, den R-Wert mit entsprechenden Maßnahmen dauerhaft sehr deutlich unter 1 zu drücken, um der Covid-19-Epidemie in Deutschland Herr zu werden. Von voreiligen Schlüssen von Fachfremden wie dem Ökonomen Homburg hält der Statistiker Küchenhoff wenig. »Man muss Zahlen richtig lesen können – und dafür muss man sich eben ein bisschen mit Epidemiologie beschäftigen.«
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.