Ist Onlinetherapie ein Trend der Zukunft? |
Psychotherapeutische Behandlungen via Internet haben seit Beginn der Corona-Pandemie einen Boom erfahren. / Foto: Adobe Stock/Gpoint Studio
Die klassische Psychotherapie findet einmal pro Woche in der Praxis eines Therapeuten statt. Im Durchschnitt dauert das Gespräch eine Stunde, dazu kommt die Ausführung besprochener Aufgaben und Übungen bis zur nächsten Therapiestunde. Obwohl dieses klassische Setting seit Jahren besteht, ist es für viele Patienten nicht unbedingt das Ideal. Der Weg zum Therapeuten kann besonders in ländlichen Regionen viel Zeit in Anspruch nehmen. Einige Patienten sind aufgrund von Erkrankung so eingeschränkt, dass ihnen ein Besuch in der Praxis kaum möglich ist. Auch Schamgefühle können eine Hürde darstellen, wenn es darum geht, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und nicht zuletzt kann die Wartezeit auf einen Therapieplatz lang sein.
Online Angebote können viele dieser Lücken schließen, aber können sie dieselben Ergebnisse liefern wie eine klassische Psychotherapie? Diese Frage wurde bis zum Beginn der Covid-19-Pandemie kontrovers diskutiert. Inzwischen hat sie sich für viele Psychotherapeuten zumindest vorübergehend erübrigt. Laut einer Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung, in der Anfang April 2020 4466 Psychotherapeuten befragt wurden, haben 77 Prozent der Teilnehmer das Setting gewechselt, um Patienten weiter versorgen zu können. Statt in der Praxis finden viele Behandlungen nun als Onlinetherapie mit Videosprechstunde statt. Die Krankenkassen übernehmen derzeit die Kosten, wenn die Therapiestunden mit zertifizierten Videotelefonie-Programmen durchgeführt werden. Für Patienten ohne entsprechende technische Voraussetzungen oder Erfahrungen gibt es die Möglichkeit der Telefonbehandlung. #
Während die Videobehandlung der klassischen Psychotherapie noch sehr ähnlich ist, gibt es inzwischen auch ein recht umfangreiches Angebot an psychologischer Unterstützung, die ohne Gesprächskontakt auskommt. Die sogenannten internetbasierten Selbsthilfe- und Interventionsangebote sind selbststeuernde Programme, die auf einem festgelegten Behandlungsprotokoll basieren. Häufig handelt es sich dabei um Methoden aus der kognitiven Verhaltenstherapie, aber auch andere therapeutische Konzepte wie die psychodynamische oder interpersonelle Therapie, achtsamkeitsbasierte Ansätze oder Kombinationen mehrerer Methoden sind vertreten. Angebote finden sich für viele Problem- und Störungsbereiche wie zum Beispiel Posttraumatische Belastungsstörungen, Essstörungen und Substanzmissbrauch. Besonders gut untersucht ist die Anwendung bei depressiven Erkrankungen und Angststörungen.
Das Ausmaß der persönlichen Betreuung ist bei allen internetbasierten Selbsthilfe- und Interventionsangeboten relativ gering. So kommen Onlinetrainings, die Nutzern ausschließlich Informationen und Anleitungen zur Selbsthilfe zur Verfügung stellen, gänzlich ohne Therapeuten oder Berater aus. Bei der Onlinepsychotherapie bearbeiten Patienten ebenfalls alle Module eigenständig, oft sind dabei aber ergänzende Kontakte per Mail, Telefon oder SMS zu einem Psychotherapeuten vorgesehen.
Wird die traditionelle Psychotherapie mit digitalen Möglichkeiten ergänzt oder werden verschiedene digitale Behandlungsmodule miteinander kombiniert, sprechen Psychologen von sogenannten Blended-therapy-Ansätzen. Diese können dann zum Beispiel so aussehen, dass eine reguläre Psychotherapie mit einer App kombiniert wird, die bei Übungen unterstützt oder zusätzliches Wissen zur Behandlung vermittelt. Ein Selbsthilfeprogramm kann die Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken oder nach Abschluss der Behandlung den Therapieerfolg aufrechterhalten. Auch die Integration in eine klassische Psychotherapie ist möglich.
Viele Krankenkassen übernehmen inzwischen die Kosten für Onlinetherapie-Programme. Dazu gehört etwa deprexis®, ein Onlinetherapie-Programm gegen Depressionen, oder MindDoc, die eine Onlinetherapie bei Depressioenen, Essstörungen, Ängsten und Zwängen anbieten. Ob die eigene Krankenkasse dabei ist, erfährt man direkt bei den Anbietern oder der Krankenkasse. Darüber hinaus gibt es auch einige kostenlose Programme wie zum Beispiel Studicare. Hierbei handelt es sich um ein WHO-assoziiertes Forschungs- und Kooperationsvorhaben zur Förderung der psychischen Gesundheit von Studenten. Zugänglich sind Onlinetrainings zur Prävention und Behandlung von Depressionen, Stress, Körperunzufriedenheit und Ängsten inklusive Prüfungsangst. MoodGym richtet sich an Menschen mit Depressionen. Entwickelt wurde es von Wissenschaftlern der Australian National University. Die Anpassung an deutsche Gegebenheiten und die Übersetzung erfolgte durch das Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig. Auch das Programm iFightDepression der Stiftung Deutsche Depressionshilfe richtet sich an Menschen mit Depressionen. Allerdings muss hier der Zugang durch einen Arzt oder Psychotherapeuten freigeschaltet werden.
In der Psychotherapie ist die therapeutische Beziehung zwischen Patient und Behandler ein wichtiges Element für die Wirksamkeit der Therapie. Obwohl diese bei reinen Onlinetherapien doch stark vom klassischen Setting abweicht, konnten Studien nachweisen, dass die therapeutische Beziehung bei beiden Therapieformen gleichwertig ist. Unsicherheit herrschte dennoch als mit Beginn der Covid-19-Pandemie viele klassische Therapien ungewollt als Videobehandlung weitergeführt werden mussten und dies auch Patienten betraf, die noch keine Beziehung zum Therapeuten aufbauen konnten. Inzwischen gibt es auch hier Entspannung. Erste Studien weisen darauf hin, dass der Beziehungsaufbau dem der regulären Therapie entspricht. Laut dem Verband Pro Psychotherapie e.V. deuten die Daten daraufhin, dass es für viele Patienten wichtiger ist, sich kompetent betreut zu fühlen, Rückmeldungen zu erhalten und die richtigen Hilfestellungen zu bekommen als dem Therapeuten persönlich gegenüberzusitzen. Vielen Patienten fiele es in einer Onlinetherapie zudem leichter, offen über ihre Probleme und persönliche Dinge zu berichten. Unklar ist bisher noch, wie Therapeut und Patient den Settingwechsel zwischen Praxis und Online erleben, besonders, wenn er häufiger stattfindet.
Eine Herausforderung kann die Weiterbetreuung von Kindern sein, deren Behandlung vor allem über das gemeinsame Spielen stattfindet. Aber auch hier gibt es Mittel und Wege wie Brigitte Sindelar in »Die Psyche in Zeiten der Corona-Krise« beschreibt. So gäbe es die Möglichkeit des gemeinsamen Onlinespiels während einer Videokonferenz, bei dem die Auswahl der Spielfigur, die Art des Zusammen oder Gegeneinander Spielens dem Psychotherapeuten die gleichen Interventionsmöglichkeiten wie beim echten Spiel geben. Darüber hinaus existieren für Kinder bereits gut evaluierte Computerspiele, die neben dem Spaßfaktor darauf abzielen, Verhaltensänderungen zu unterstützen. Zum Beispiel SPARX zur Prävention und Behandlung depressiver Störungen oder Camp-Cope-A-Lot bei Angststörungen.
In ihrer Wirksamkeit steht die Onlinetherapie der herkömmlichen Psychotherapie in nichts nach. Erste Studien zeigen zudem, dass der Therapieerfolg wie bei einer klassischen Therapie über das Programmende hinaus bestehen bleibt. Aber es gibt auch Einschränkungen: Fehlt die Mensch zu Mensch Begegnung, so fehlen auch wichtige Merkmale, mit denen Psychotherapeuten den psychischen Zustand ihrer Patienten einschätzen können. Mimik, Gestik, Körperhaltung und Stimmlage verraten viel über das Innenleben, sind aber in der Onlinetherapie nicht sichtbar. Selbst bei der Videobehandlung gibt es Einschränkungen. Zudem kann der Patient den Kontakt mit nur einem Mausklick abbrechen. Bei schwer ausgeprägten psychischen Erkrankungen, bei akuten Krisen sowie einer Selbst- oder Fremdgefährdung wird deshalb nach wie vor eine Therapie im klassischen Setting empfohlen.