Kann Social Media helfen, Arzneimittel zu verbessern? |
Juliane Brüggen |
03.01.2022 16:45 Uhr |
Social Media Mining könnte in der patientenzentrierten Forschung zum Einsatz kommen. / Foto: Getty Images/Malik Evren
»Social Media Mining« hört sich zunächst abschreckend an – soll aber helfen, medizinische Innovationen zu fördern, die sich auf die Bedürfnisse der Patienten konzentrieren. Es handelt sich um eine computergestützte Analyse von Social-Media-Daten, meist mithilfe künstlicher Intelligenz. In welchen Fällen die Daten nützlich sein könnten, hat ein Forscherteam der Universität Witten/Herdecke untersucht und die Ergebnisse in der Fachzeitschrift »Drug Discovery Today« veröffentlicht.
Demnach kann Social Media Mining dazu dienen, unerfüllte medizinische Bedürfnisse der Patienten zu erkennen. Diese beeinflussen mitunter die Sterblichkeit, Symptome, Krankheitslast und -dauer, Nebenwirkungen und die Zufriedenheit mit der Therapie. Ein Beispiel: Patienten empfinden eine Tablette als zu groß und finden es unangenehm, sie zu schlucken. Das kann einen negativen Einfluss auf die Therapietreue haben. Ein Pharmaunternehmen kann diese Erkenntnis nutzen, um das Arzneimittel weiterzuentwickeln. Man spricht von patientenzentrierter Arzneimittelentwicklung.
Social Media Mining (SMM) ist ein neues Feld der interdisziplinären Forschung. Es lässt sich den Computerwissenschaften zuordnen, kann aber in vielen verschiedenen Disziplinen zum Einsatz kommen, beispielsweise bei der Entwicklung von Arzneimitteln. Mit SMM werden Daten aus Online-Foren, Blogs und sozialen Medien gesammelt und ausgewertet, um Eindrücke und Bedürfnisse aus bestimmten Gruppen zu gewinnen. Da Social-Media-Daten sehr heterogen sind, ist es nicht einfach, sie zu analysieren, selbst mit automatisierten Prozessen und Algorithmen.
Social Media Mining kann außerdem genutzt werden, um neue Indikationen für ein Arzneimittel zu erkennen: »Wir können in den Daten erkennen, wenn Arzneimittel außerhalb der bisherigen Zulassung von Patienten für bestimmte Erkrankungen eingenommen werden«, so Jonathan Koß, Erstautor der Studie und Doktorand am Lehrstuhl für Management und Innovation im Gesundheitswesen der Universität Witten/Herdecke. »Daraus können dann Hypothesen für Drug Repurposing gebildet werden, also Überlegungen für die Zulassung eines bestehenden Wirkstoffs für eine bisher nicht besetzte Indikation.« In einer Studie konnte ein Algorithmus beispielsweise auf Basis von SMM-Daten vorhersagen, für welche Zwecke bestimmte Arzneimittel off-label verwendet werden, zum Beispiel Metformin und Bupropion bei Übergewicht, Tramadol bei Depressionen und Ondansetron bei Reiz-Darm-Syndrom mit Durchfall. Die Ergebnisse müssen jedoch kritisch geprüft werden und können lediglich dazu dienen, Hypothesen aufzustellen.
Darüber hinaus kann Social Media Mining helfen, unbekannte, unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu entdecken und potenzielle Studienteilnehmer zu finden, heißt es in der Forschungsarbeit.
Die Methode hat einige Limitationen, wie die Autoren der Studie betonen, vor allem die Datenqualität betreffend. Die verfügbaren Daten sind demnach in bestimmten Indikationen begrenzt. Für chronische Krankheiten, die mit einem hohen Leidensdruck einhergehen, stünden beispielsweise mehr Social-Media-Daten zur Verfügung als für weniger schwerwiegende und akute Leiden. Altersverteilung und Zugang zum Internet begrenzen die Datenqualität weiter: Nur Patientengruppen, die auf Social-Media-Plattformen aktiv sein können und dies tatsächlich auch sind, werden erfasst.
Zudem müsse die Richtigkeit der Daten hinterfragt werden, da Patienten üblicherweise keine Fachleute sind und keine medizinischen Fachbegriffe verwenden. Häufig könnten sie nicht zwischen Komorbiditäten und Nebenwirkungen unterscheiden. Bots sind ein weiteres Problem. Sie werden von Algorithmen gesteuert und verhalten sich in den sozialen Medien wie Menschen, um bestimmte Inhalte und Meinungen zu verbreiten. Nicht zuletzt sind rechtliche und ethische Faktoren relevant: Der Datenschutz und die Richtlinien der Plattformen müssen beachtet werden, aus ethischer Sicht außerdem die Privatsphäre und die Anonymität der User.
Die geringe Datenqualität könnte insgesamt zu einer hohen Verzerrung der Stichprobe (engl. sampling bias) führen, so die Wissenschaftler. Die Ergebnisse sind dann nicht repräsentativ für die Zielgruppe. Selbst wenn sie repräsentativ wären, müsste aber noch von unvollständigen und inkonsistenten Daten ausgegangen werden. Das Forscherteam resümiert schließlich, dass Social Media Mining weiter untersucht werden muss, um den tatsächlichen Nutzen für die Entwicklung von Arzneimitteln zu bewerten. Die Methode habe aber das Potenzial, patientenrelevante Innovationen voranzubringen.