Kein Schaden fürs Immunsystem |
Clara Wildenrath |
01.10.2021 15:30 Uhr |
Dass das Immunsystem durch die AHA-Regeln langfristig Schaden nimmt, ist unwahrscheinlich. / Foto: Adobe Stock/Tom Wang
In diesem Sommer klagten ungewöhnlich viele Menschen über Erkältungskrankheiten, in einer dafür eigentlich untypischen Jahreszeit. Hat der mangelnde Erregerkontakt die Abwehr geschwächt? Gerade bei Kindern, das wissen Immunologen schon lange, trägt eine Vielzahl banaler Infekte in den ersten Lebensjahren dazu bei, das Immunsystem für größere Herausforderungen zu trainieren. Aber schadet die derzeit besonders strenge Hygiene wirklich?
Schon 2020 registrierten Forscherinnen und Forscher in Hongkong einen sprunghaften Anstieg von Atemwegsinfekten, als der Schulbetrieb nach dem strengen Lock Down wiederaufgenommen wurde. Die Zahl der größeren Infektionsausbrüche innerhalb der Schulen übertraf die der Vorjahre um das 15- bis 25-fache – und das, obwohl Maskenpflicht und Abstandsregeln nach wie vor galten. Als Erreger wurden vor allem Rhino- und Enteroviren ausgemacht. Offenbar ließen sich diese durch Mund-Nasen-Masken weniger effektiv von der Ausbreitung abhalten als SARS-CoV-2. Etwa zwei Wochen nach dem Schulstart nahmen Erkältungskrankheiten auch bei Erwachsenen wieder deutlich zu. Die Wissenschaftler schlossen aus ihren Beobachtungen, dass die Anfälligkeit der Bevölkerung für Atemwegsviren gestiegen sei, weil die Menschen durch das Social Distancing über Monate diesen Viren weniger ausgesetzt waren.
Ähnliches berichteten auch Forschungsteams aus den USA. Hier stieg die Zahl der Infektionen mit Rhino- und Enteroviren nach dem Ende des ersten Lock Downs 2020 zunächst ebenfalls an. Mit der weiteren Lockerung der Hygiene- und Abstandsmaßnahmen breiteten sich danach vor allem Parainfluenza- und saisonale Coronaviren (nicht SARS-CoV-2) aus. Auch in Deutschland waren die Arztpraxen in den Sommermonaten 2021 voll mit erkälteten Kindern – wie sonst nur im Winter.
Doch nicht nur harmlose Erkältungskrankheiten waren auf dem Vormarsch. Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) vermeldete im Juli dieses Jahres eine für die Jahreszeit untypische Häufung von Infektionen mit dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV). In mehreren Ländern – unter anderem England, Schweiz und USA – stiegen dadurch bereits in den Sommermonaten die Zahlen der Krankenhausaufnahmen von Kindern. In Neuseeland verzeichnete man im Juli 2021, im dortigen Winter, einen Rekordanstieg von RSV-Infektionen mit mehr als dreimal so viel positiven Testnachweisen wie 2019.
Normalerweise tritt RSV in Deutschland vor allem in den Monaten November bis März in Erscheinung. Die Virusinfektion ist die häufigste Ursache von akuten Atemwegserkrankungen im frühen Kindesalter und damit verbundenen Klinikeinweisungen.
Fast jedes Kind macht innerhalb der ersten beiden Lebensjahre eine RSV-Infektion durch. Meist beginnt sie mit Schnupfen, Husten und Fieber. Bei etwa fünf Prozent der erkrankten Säuglinge entwickelt sich daraus eine schwere Lungenentzündung mit keuchhustenähnlichen Symptomen. Besonders häufig davon betroffen sind Frühgeborene sowie Kinder mit einer Vorerkrankung der Lunge, einem angeborenen Herzfehler oder einer Immunschwäche. Die Sterblichkeit nach einer RSV-Infektion beträgt in dieser Gruppe etwa fünf Prozent, bei Kindern ohne erhöhtes Risiko 0,2 Prozent. Im vergangenen Winter verzeichnete das Robert Koch-Institut (RKI) infolge der Pandemiemaßnahmen nur sehr vereinzelte Erkrankungsfälle.
Aufgrund der ungewöhnlich hohen Anzahl von RSV-Infektionen in der warmen Jahreszeit empfahlen die DGPI und andere Organisationen in einer Stellungnahme, RSV schon im Sommer in die Differentialdiagnostik mit einzubeziehen. Auch einen früheren Beginn der medikamentösen RSV-Prophylaxe mit dem monoklonalen Antikörper Palivizumab für Hochrisikogruppen zogen sie in Betracht (Stand 27. Juli 2021).
Dass die Zahl der Infektionen jetzt deutlich ansteigt, ist für Professor Dr. med. Tim Niehues, Chefarzt des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin am Helios-Klinikum Krefeld, aber noch kein Hinweis auf ein geschwächtes Immunsystem. »Durch das Social Distancing ist eine Saison Atemwegserkrankungen ausgefallen. Die Gruppe der vulnerablen, also noch nicht immunen Kinder ist deshalb viel größer. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung«, erklärt der Immunologe im Gespräch mit dem PTA-Forum. Die RSV-Infektion werde lediglich in ein etwas späteres Lebensalter verschoben. Das hält er prinzipiell sogar für einen positiven Effekt: »Je jünger die Kinder sind, desto geringer ist der Durchmesser der kleinsten Bronchialverästelungen. Deshalb ist die Erkrankung für Säuglinge gefährlicher als für größere Kinder.« Ein gewisses Komplikationsrisiko besteht jedoch immer.
Die Tatsache, dass aufgrund der fehlenden Immunität in diesem Herbst und Winter insgesamt viel mehr Kinder erkranken könnten, erfüllt deshalb auch Niehues mit Sorge. »Die Kinderkliniken werden sich wieder füllen«, fürchtet er. Nicht nur wegen RSV: Insgesamt gebe es etwa 50 verschiedene Viren, die für Krankenhauseinweisungen aufgrund von Atemwegsinfekten bei Kindern verantwortlich sind. Bisher sieht er in seiner Krefelder Klinik keinen Hinweis, dass sich das Erregerspektrum infolge der Corona-Beschränkungen geändert habe.
Beobachtungsstudien aus den letzten Jahrzehnten legen nahe, dass ein trainiertes Immunsystem nicht nur Infektionen besser in den Griff bekommt. Die ständige Auseinandersetzung mit Keimen hilft den Abwehrzellen offenbar auch, körpereigene Strukturen und unschädliche Fremdstoffe von potenziellen Krankheitserregern zu unterscheiden. Das schützt den Organismus vor schädlichen Überreaktionen. Nach der Hygienehypothese ist ein »unterfordertes« Immunsystem maßgeblich für den Anstieg von Heuschnupfen, Asthma und anderen Allergien in den Industrieländern verantwortlich. »Auf den Philippinen zum Beispiel findet man bei fast allen Kindern Würmer im Stuhl, aber es gibt praktisch keine Allergien«, verdeutlicht Niehues den Zusammenhang. In Deutschland litten die Kinder aus den neuen Bundesländern in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung deutlich seltener an Heuschnupfen, Neurodermitis und Asthma – mutmaßlich, weil sie frühzeitig in der Kinderkrippe mit vielen Keimen in Kontakt kamen.
Ist nach den verstärkten Hygienemaßnahmen, den Kontaktbeschränkungen und dem monatelangen Maskentragen nun mit einer Zunahme von Allergien zu rechnen? Immunologe Niehues hält das für unwahrscheinlich: »Ich glaube nicht, dass ein Winter ausreicht, um das Immunsystem dauerhaft aus dem Gleichgewicht zu bringen«, meint er. »Die Kinder werden die Infekte wieder aufholen.« Letzteres könne anders ausfallen, wenn durch weitere Schul- und Kindergartenschließungen noch zwei oder drei Erkältungssaisons ausfallen würden. Aber nur dann, denn Mund-Nasen-Bedeckungen alleine, davon ist er überzeugt, reichen nicht aus, um Atemwegsinfekte bei Kindern komplett zu verhindern. Das belegt auch die (oben zitierte) Hongkonger Studie. Aus Ländern, in denen das Maskentragen schon länger zum Alltag gehört, gibt es laut Niehues ebenfalls keine Hinweise darauf, dass sich dies auf Allergieraten ausgewirkt habe.
Denkbar wäre außerdem, dass der reduzierte Kontakt mit Keimen das Immunsystem noch über einen weiteren Weg beeinflussen könnte: über das Mikrobiom. Die Besiedlung des Darms, der Haut und anderer Organe mit einer gesunden Bakterienflora leistet einen wichtigen Beitrag zur Infektionsabwehr. Sie kann schädliche Mikroben in Schach halten und auf der anderen Seite auch das Immunsystem vor Überreaktionen bewahren. Das trägt maßgeblich dazu bei, Allergien und Autoimmunerkrankungen zu verhindern. Förderlich ist für diese Schutzwirkung insbesondere eine große Artenvielfalt des Mikrobioms.
Die unteren Atemwege galten bis vor wenigen Jahren beim gesunden Menschen als steril. Inzwischen weiß man, dass auch die Lunge stets mit Mikroben besiedelt ist – wenn auch in viel geringerem Ausmaß als der Darm. Mit jedem Atemzug gelangt eine Vielzahl von Keimen in den Körper. Zum überwiegenden Teil werden diese von den Epithelzellen der Lunge, von antimikrobiellen Proteinen und spezialisierten Immunzellen außer Gefecht gesetzt. Einige wenige überleben jedoch in der Lungenschleimhaut, ohne Schaden anzurichten. Auch akute Infektionen der Atemwege tragen dazu bei, dass sich in der Lunge ein gesundes Gleichgewicht zwischen Mikrobenwachstum und Abwehrsystem einpendelt. Wenn sich einzelne Arten übermäßig vermehren und andere verdrängen (Dysbiose), kann das Erkrankungen wie MukovCOPD (chronisch obstruktive Lungenerkrankung) oder Asthma fördern. Die Immunantwort und die Funktion des Lungenepithels werden ebenfalls durch die Zusammensetzung der Lungenflora beeinflusst. Möglicherweise spielt das auch bei einem schweren Krankheitsverlauf von COVID-19 eine Rolle.
Ob sich allerdings durch das Maskentragen tatsächlich das Lungenmikrobiom verändert, ist bislang nicht nachgewiesen. »Die Lungenflora kann man nur durch eine aufwendige und für den Patienten sehr unangenehme Bronchiallavage untersuchen«, erklärt Professor Niehues, »deshalb weiß man darüber noch sehr wenig.« Dass das häufige Händewaschen und -desinfizieren einen negativen Einfluss auf das Darmmikrobiom haben könnten, glaubt er nicht, »höchstens in Extremfällen«. Denn im normalen häuslichen Umfeld gebe es genügend Keime, die über den Mund in das Verdauungssystem gelangen können.
Forscherinnen und Forscher vom kanadischen »Humans and the Microbiome Program« sehen das anders. In einem Artikel in der renommierten Fachzeitschrift PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America) warnten sie, dass die strengen Hygienemaßnahmen während der Corona-Pandemie vor allem in Industrieländern die Diversität des Mikrobioms beeinträchtigen könnten. Das könne langfristig einen erheblichen Einfluss auf die menschliche Gesundheit haben. Sie fürchten insbesondere eine steigende Inzidenz von Asthma, Diabetes, Fettleibigkeit und anderen Erkrankungen, bei denen ein Zusammenhang mit einer Dysbiose der Darmflora angenommen wird. Solche Auswirkungen lassen sich aber – wenn überhaupt – erst im Verlauf mehrerer Jahre nachweisen.
Von einem anderen Nebeneffekt der Corona-Pandemie könnte das Mikrobiom – und damit das Immunsystem – dagegen sogar profitieren: Weil weniger Infekte auftraten, nahmen auch weniger Menschen Antibiotika. Während des ersten Lock Downs im Frühjahr 2020 verzeichnete die Techniker Krankenkasse nur etwas mehr als halb so viele verordnete Tagesdosen wie im Vorjahreszeitraum. Damit lag die Zahl der Antibiotikabehandlungen so niedrig wie schon seit 20 Jahren nicht mehr. Unter Umständen gleichen sich die günstigen und ungünstigen Einflüsse der AHA-Maßnahmen auf das Immunsystem also aus. Dass die Abwehr langfristigen Schaden nimmt, hält Professor Niehues ohnehin für unwahrscheinlich. »Infekte lassen sich nachholen«, sagt er. Im kommenden Winter könnte auf Kinderkliniken, Arztpraxen und Apotheken deshalb ein großer Ansturm zukommen.
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.