Körpereigene Eiweiß-Power |
Isabel Weinert |
10.06.2024 15:50 Uhr |
Myokine brauchen keinen Leistungssport. Ein gesunder Mix aus Ausdauer und Krafttraining lockt die Signalstoffe bereits ausreichend hervor. / Foto: Adobe Stock/Vasyl
Bewegt sich ein Mensch und löst damit automatisch Arbeit in Teilen der Skelettmuskulatur aus, dann regulieren die Muskelkontraktionen die Menge an freigesetzten Myokinen. Die kleinen Proteine finden über Rezeptoren in der Muskulatur, in weißem und braunem Fettgewebe, in Immunzellen, Herz, Bauchspeicheldrüse, Leber und Hirnzellen reichlich Anknüpfungspunkte, um mit diesen Geweben zu kommunizieren. Das wirkt sich nach heutigem Kenntnisstand in der Regel positiv auf den Organismus aus.
Der »exercise factor«
Das bekannteste Myokin ist Interleukin-6 (IL-6), das auch als »exercise factor« bezeichnet wird. Es wirkt unter anderem direkt in der Muskulatur, wo es deren Wachstum steigert. Bei Bewegung kann sich die Konzentration von IL-6 im Muskelgewebe um das Hundertfache steigern. Mengen, die dazu führen, dass der Körper mehr Fett verbrennt, das Immunsystem effizient arbeitet und die Entstehung von Tumoren eingedämmt wird. Gerade bei Letzterem jedoch ist noch nicht viel bekannt über die Wirkweise und darüber, ob das Interleukin tatsächlich in jeder Konstellation jeder Tumorerkrankung entgegenwirkt.
Weil IL-6 dafür sorgt, dass mehr Glucose in Körperzellen gelangt, kann es dazu beitragen, nicht nur Blutzuckerwerte bei vorhandenem Diabetes zu senken, sondern auch das Risiko, an Typ-2-Diabetes zu erkranken. Das Myokin wirkt zudem Osteoporose entgegen.
Der IL-6-Spiegel kann auch krankhaft erhöht sein, etwa bei der sogenannten »silent inflammation«, wie sie bei Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorhanden sein kann, und auch im Rahmen einiger Tumorerkrankungen. Dann können Muskeln unter seinem Einfluss an Masse verlieren.
Ein weiteres Myokin ist für Forschende äußerst interessant und entsteht in hohem Maße im Skelettmuskel und in der Plazenta – das Interleukin-15 (IL-15). Kraftsport kurbelt unmittelbar seine Produktion im Muskel an, regelmäßiger Ausdauersport scheint generell höhere IL-15-Konzentrationen auszulösen. Das Zytokin könnte die Prognose bei einigen Krebsarten womöglich verbessern. Allerdings zeigte auch eine chinesische Studie, dass es dabei von der Tumorart abhängt. Manche Tumorarten scheinen von IL-15 womöglich auch gefördert zu werden. IL-15 beeinflusst Immunreaktionen positiv, große Mengen wirken Adipositas und Insulinresistenz entgegen.
Musclin ist ein weiteres Myokin, welches innerhalb der Skelettmuskulatur eine wichtige Rolle spielt. Körperliche Aktivität fördert auch hier die Ausschüttung. Auf diese Weise kann sich die Muskulatur an das Training anpassen. Wissenschaftler verschiedener Universitäten in Deutschland untersuchten den Zusammenhang zwischen Musclin und der Gesundheit des Herzens. Hierhin gelangt das Myokin über die Blutbahn. Vorab wussten die Forscher bereits, dass Menschen mit Herzinsuffizienz einen Musclinmangel aufweisen. Nun untersuchten sie Mäuse, die kein Musclin produzieren können, und solche, die einen Überschuss davon bilden, im Zusammenhang mit Herzinsuffizienz. Dabei zeigte sich: Mäuse ohne Musclin entwickeln schneller eine Herzinsuffizienz als jene mit zu viel des Zytokins. Aus diesen Resultaten könnte sich eine neue Therapieoption für Menschen mit Herzinsuffizienz entwickeln lassen.
Bei Irisin, das auch als Sporthormon bezeichnet wird, handelt es sich um ein viel beforschtes Myokin, welches Muskelzellen nach dem Sport in die Blutbahn abgeben. Wissenschaftler gehen davon aus, dass es die Hirnleistung günstig beeinflusst, indem es im Hippocampus mit dafür sorgt, dass sich neue Synapsen bilden. Speziell auch für Parkinson-Patienten könnte Irisin eine große Bedeutung haben, weil es den Abbau des sogenannten alpha-Synucleins in den Lyosomen der Hirnzellen beschleunigt. Das Protein alpha-Synuclein faltet sich bei Parkinson falsch und verklumpt. Irisin könnte mitverantwortlich sein für den positiven Effekt von Ausdauertraining in der Frühphase eines Morbus Parkinson. Es wirkt positiv auf motorische Fähigkeiten, Gleichgewicht und Gangbild der Betroffenen.
Irisin kann zudem weiße Fettzellen in braunes Fett umwandeln, das selbst so gut wie keine Energie speichert, sondern sie in seinen zahlreichen Mitochondrien verbrennt. Reichlich braunes Fettgewebe wirkt Übergewicht, Diabetes und Erkrankungen an Herz und Kreislauf entgegen.
Ebenfalls im Fokus der Wissenschaft steht das Myokin BDNF, der Brain Derived Neurotrophic Factor. Er schützt Neuronen und Synapsen und sorgt dafür, dass neue Nervenzellen sprießen. Wissenschaftler hegen die Hoffnung, mit diesem Myokin einen neuen medikamentösen Hebel gegen neurodegenerative Erkrankungen entwickeln zu können.
Bis dato sind nur einige der circa 600 verschiedenen von der Muskulatur freigesetzten Myokine untersucht. Klar ist, dass Bewegung ihre Ausschüttung fördert, also alles, was den Einsatz der Muskeln fordert. Etliches ist noch unerforscht. So weiß man bis dato nicht, ob verschiedene Sportarten auch die Ausschüttung unterschiedlicher Myokine mit sich bringen. Anhaltspunkte dafür existieren. Wissenschaftler interessieren sich dafür, aus Myokinen Medikamente mit unterschiedlichen Einsatzgebieten zu entwickeln. Bis dahin wird es aber noch ein gutes Stück Weg sein, damit potenzielle Myokin-Medikamente auch tatsächlich unverändert am Wirkort ankommen. Die einfachste Lösung lautet, sich so viel wie möglich zu bewegen, am besten mit einem Mix aus Kraft- und Ausdauertraining.