Kurzkettige Fettsäuren im Fokus |
Barbara Döring |
04.12.2024 08:00 Uhr |
Eine Ernährung, die reich an Ballaststoffen ist, regt die Darmbakterien zur Bildung wertvoller kurzkettiger Fettsäuren an. / © Adobe Stock/Poligoone
Seit etwa 20 Jahren beschäftigt sich die Forschung intensiv mit der Bedeutung des Darmmikrobioms für die Gesundheit. Inzwischen ist klar: Die Gemeinschaft der Mikroben hat in entscheidenden Bereichen die Finger im Spiel. Sie reguliert das Immunsystem, beeinflusst Entzündungsprozesse und kommuniziert mit dem zentralen Nervensystem. Dabei spielen die Stoffwechselprodukte bestimmter Bakterienarten eine wichtige Rolle. Sie wirken nicht nur im Darm direkt, sondern gelangen über den Blutkreislauf in Organe wie Leber, Herz und Gehirn, wo sie ihre Wirkung entfalten. Im Fokus stehen dabei die kurzkettigen Fettsäuren, die bei der Prävention und Behandlung zahlreicher Erkrankungen künftig eine wichtige Rolle spielen könnten.
Kurzkettige Fettsäuren (»short chain fatty acids«, SCFA) wie Butyrat (Buttersäure), Propionat (Propionsäure) oder Acetat (Essigsäure) kann der menschliche Körper nicht selbst herstellen. Die Fettsäuren, deren Kohlenstoffkette zwei bis maximal sechs Kohlenstoffatome aufweisen, entstehen im Dickdarm bei der Vergärung von nicht verdaulichen Kohlenhydraten. Als Stoffwechselprodukte der nützlichen Darmbakterien werden SCFA auch als Postbiotika bezeichnet und in ihrer Bedeutung für die Gesundheit inzwischen mit Pro- und Präbiotika in eine Reihe gestellt.
Die drei wichtigsten von Darmbakterien gebildeten kurzkettigen Fettsäuren und ihre Funktion für die Gesundheit:
Der größte Teil der im Darm produzierten kurzkettigen Fettsäuren gelangt in die Zellen des Darmepithels, denen sie als Energielieferanten dienen. Butyrat spielt hier eine besondere Rolle, indem es die Proliferation und Differenzierung der Epithelzellen beeinflusst und so die Ausbildung von »tight junctions« reguliert. Dieses Netzwerk spezialisierter Proteine stellt die Verbindungen unter den Zellen her und bildet so eine stabile Barriere, die zwar Nährstoffe durchlässt, für Krankheitserreger und Fremdstoffe jedoch unpassierbar ist. Eine Störung der »tight junctions«, etwa durch eine unausgewogene Ernährung, Alkohol oder Darminfektionen kann dazu führen, dass die Darmbarriere durchlässig wird und ein »Leaky Gut« entsteht. Krankheitserreger, Giftstoffe oder Allergene dringen dann leicht in den Körper ein.
Indem kurzkettige Fettsäuren die Darmbarriere stabilisieren, wirken sie nicht nur lokalen Entzündungen entgegen. Studien zeigen, dass Butyrat auch die Entwicklung einer rheumatoiden Arthritis positiv beeinflussen kann. Durch Stabilisierung des Darmepithels verhindert die Fettsäure, dass Antikörper gegen die eingedrungenen Peptide oder Bakterienfragmente gebildet werden, die mitunter auch körpereigenes Gewebe angreifen können und so zu autoimmunbedingten Entzündungsreaktionen führen. Forschende der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) in Erlangen-Nürnberg konnten zudem zeigen, dass die Gabe von Butyrat bei Mäusen den Beginn einer Arthritis verzögerte. Auch die Autoimmunerkrankung Morbus Crohn wird mit einem Mangel an kurzkettigen Fettsäuren in Verbindung gebracht.
Die Wirkung der kurzkettigen Fettsäuren ist nicht allein auf das Darmepithel beschränkt. Ein Teil der SCFA gelangt über den Blutkreislauf zunächst in die Leber, ein weiterer Teil in andere Organe und Gewebe. Hier binden sie an Rezeptoren, über die sie die Ausschüttung proentzündlicher Zytokine wie TNF-alpha hemmen und die Produktion antientzündlicher Zytokine wie Interleukin-10 beeinflussen. Leberzellen benötigen kurzkettige Fettsäuren zudem, um zu wachsen und sich teilen zu können. Forschende der Technischen Universität München (TUM) konnten nachweisen, dass Darmbakterien durch die Produktion kurzkettiger Fettsäuren den Fettstoffwechsel in den Leberzellen und damit deren Fähigkeit zur Regeneration beeinflussen. Auch im Blutkreislauf direkt entfalten zirkulierende SCFA ihre Wirkung. Sie steigern die Insulinproduktion und fördern die Aufnahme von Glucose in die Zellen. Darüber hinaus tragen sie dazu bei, die Cholesterol- und Lipidkonzentration im Blut zu senken. Ein chronischer Mangel an SCFA wird mit Typ-2-Diabetes, Adipositas und Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Verbindung gebracht.
Zur Gewichtsregulation tragen kurzkettige Fettsäuren ebenfalls bei. Einerseits regen sie in der Darmschleimhaut die Ausschüttung von Neuropeptiden an, die über den Blutkreislauf in den Hypothalamus gelangen und das Sättigungsgefühl auslösen. Andererseits überwinden SCFA selbst die Blut-Hirn-Schranke und unterdrücken das Hungergefühl. Kurzkettige Fettsäuren sind somit als Teil der Darm-Hirn-Achse zu betrachten, die Botschaften aus dem Darm zum Gehirn vermitteln. Dabei beeinflussen sie nicht das Hungerzentrum. Forschende haben in den letzten Jahren den Einfluss von SCFA auf neurologische Erkrankungen genauer unter die Lupe genommen.
Die Untersuchungen lassen vermuten, dass die Bakterien-Metabolite den Neurotransmitter-Haushalt sowie die Ausbildung von Synapsen und damit kognitive Funktionen beeinflussen. Die kurzkettigen Fettsäuren helfen offenbar zudem der Mikroglia, Entzündungsreaktionen zu bekämpfen. Die »Fresszellen des Gehirns«, auch Gehirn-Makrophagen genannt, entsorgen eingedrungene Keime, abgestorbene Nervenzellen und sind an der lebenslangen Formbarkeit des Gehirns beteiligt. Ein Mangel an SCFA scheint dagegen die Funktion der Mikroglia zu beeinträchtigen. Störungen der Mikroglia wiederum bringen Forscher mit neurologischen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer in Verbindung.
Dass die Bakteriengemeinschaft im Darm die Immunabwehr des Gehirns beeinflusst, hatten Neuropathologen des Universitätsklinikums Freiburg am Mäusemodell festgestellt. Sie konnten zudem nachweisen, dass SCFA für die Funktion der Mikroglia benötigt werden. Bei sterilen Mäusen ohne Darmflora war die Mikroglia unreif und verkümmert. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine Ernährung mit ausreichendem Ballaststoffanteil, der die Darmbakterien zur Produktion von SCFA anregt, auch bei der Prävention von Gehirnerkrankungen eine Rolle spielen kann.
Studien der Ruhr-Universität Bochum zeigen darüber hinaus, dass Patienten mit Multipler Sklerose (MS) von einer Supplementation mit kurzkettigen Fettsäuren profitieren könnten. Bei MS-Patienten, die mit Propionsäure supplementiert wurden, kam es bereits nach zwei Wochen zur Erhöhung und gesteigerten Funktion von regulatorischen Immunzellen, die Entzündungsreaktionen reduzieren. Nach der dreijährigen Anwendung waren Schubrate und körperliche Einschränkungen reduziert und der Untergang von Nervenzellen im Gehirn verringert. Die Erkenntnisse könnten dazu führen, diätetische Maßnahmen als Ergänzung zu den bekannten MS-Therapeutika zu entwickeln.
Damit dem Körper ausreichend kurzkettige Fettsäuren zur Verfügung stehen, ist es wichtig, dass sich SCFA-produzierende Bakterienstämme im Darm wohl fühlen. Eine Ernährung, die reich an Ballaststoffen – vor allem löslichen Ballaststoffen – ist, füttert die günstigen Bakterien und regt sie zur Vermehrung an. 30 g Ballaststoffe insgesamt – lösliche und unlösliche – sollten es täglich für eine ausreichende Produktion von SCFA sein. Wer reichlich Gemüse verzehrt, ist schon einmal auf der guten Seite. Als besonders ergiebige Lieferanten des löslichen Ballaststoffs Inulin zählen Chicorée, Artischocken, Topinambur, Schwarzwurzel, Spargel, Kohl und Lauchgewächse wie Porree, Zwiebeln und Knoblauch. Obstsorten wie Äpfel, Birnen, Beeren, Zitrusfrüchte, Pflaumen und Aprikosen liefern den löslichen Ballaststoff Pektin. Hülsenfrüchte tragen zur Versorgung mit löslichen Ballaststoffen in Form von Galacto-Oligosacchariden (GOS) bei.
Neben löslichen Ballaststoffen zählt resistente Stärke zu den Leibspeisen der SCFA-produzierenden Bakterien. Sie entsteht, wenn stärkehaltige Lebensmittel wie Brot, Kartoffeln, Reis oder Teigwaren abkühlen. Die Lebensmittel müssen etwa zwölf Stunden stehen bleiben, bis sich eine ausreichend große Menge Kohlenhydrate in resistente Stärke umgewandelt hat. Kartoffelsalat darf deshalb gerne häufiger auf dem Speiseplan stehen. Die resistente Stärke bleibt aber auch bei erneutem Erhitzen erhalten, etwa wenn es lieber Bratkartoffeln sein sollen. Unterstützt wird das Mikrobiom zudem durch Milchsäurebakterien (Probiotika), die mit fermentierten Lebensmitteln wie Sauerkraut, Essig, Joghurt, Kimchi oder Sauerteig in den Darm gelangen. Manche Lebensmittel enthalten bereits kurzkettige Fettsäuren, zum Beispiel Milch und daraus hergestellte Produkte wie Butter und Käse.
Studien am Mausmodell konnten zeigen, dass durch die Gabe von Probiotika wie Bifidobacterium longum im Darm vermehrt Butyrat gebildet wurden und die Infektanfälligkeit sank. Eine probiotische Mischung aus acht Bakterienstämmen, darunter Lactobacillus, Bifidobacterium und einem Streptococcus-Stamm hatte in verschiedenen Studien deutliche Wirkungen auf Erkrankungen des Verdauungssystems und einen positiven Einfluss auf Adipositas, Diabetes, allergische und neurologische Erkrankungen.
Die Erkenntnisse unterstützen die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) überwiegend pflanzlich und ballaststoffreich zu essen. Da eine hohe Zufuhr an Ballaststoffen die Aufnahme von kurzkettigen Fettsäuren in den systemischen Kreislauf fördert, kann sie laut DGE zur Prävention von Entzündungen und Krebs beitragen. Die gute Nachricht für alle, bei denen Ballaststoffe in der Ernährung bislang zu kurz gekommen sind: Werden die Essgewohnheiten umgestellt, finden bereits innerhalb eines Tages Veränderungen der Darmflora statt. Dafür sollten ungünstige Fette und Zucker, wie sie vor allem in Fast Food enthalten sind, reduziert werden. Eine hohe Zufuhr verändert die Zusammensetzung und Vielfalt der Darmbakterien und führt zu einer erhöhten Anfälligkeit für entzündliche Erkrankungen.
Mithilfe einer Laboruntersuchung des Stuhls lässt sich der Anteil an kurzkettigen Fettsäuren im Darm bestimmen. Anbieter empfehlen diese bei Entzündungen des Darmepithels, Darmproblemen nach Antibiotikatherapie oder einer ballaststoffarmen Ernährung. Liegen die Werte unter den Referenzbereichen, kann das ein Hinweis auf dysbiotische Veränderungen sein. Vor allem ein Mangel an Butyrat kann das Darmepithel schädigen und seine Permeabilität steigern.
Zu einer Untersuchung der SCFA im Blutserum raten Anbieter, wenn chronische Entzündungen, ein Leaky-gut-Syndrom, Übergewicht mit Störungen der Appetitregulation oder neurodegenerative Erkrankungen bestehen. Entsprechende Untersuchungen werden in Deutschland bislang nur von einzelnen Labors angeboten und sind nicht in den Leitlinien vorgesehen. Eine Abrechnung ist nur im privatärztlichen Bereich möglich. Für Selbstzahler betragen die Kosten für eine Stuhl- oder Blutuntersuchung jeweils ab circa 50 Euro.
Wissenschaftler des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung (HZI) haben eine Möglichkeit gefunden, Butyrat produzierende Bakteriengattungen im menschlichen Darm zu identifizieren. Sie konnten zudem bei Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen Merkmale der Bakteriengemeinschaft ausmachen, die Rückschlüsse zur Rolle der Mikroben für die Gesundheit zulassen. So fanden sie heraus, dass bei jedem Menschen etwa 20 Butyrat bildende Bakterienarten vorkommen. Die große Vielfalt hilft, auch grobe Störungen des Mikrobioms wie eine Antibiotikatherapie abzufangen. Die Ergebnisse sollen helfen, individuell angepasste Medikamente zu entwickeln, um eine Dysbiose mit einem Mangel an gesundheitsfördernden Bakterienarten zu vermeiden und so das Risiko von Erkrankungen zu verringern.