Lebenserwartung sinkt wieder |
Die Lebenserwartung ist in vielen europäischen Ländern wieder gesunken. Dafür verantwortlich sind hauptsächlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die oftmals auf einen ungesunden Lebensstil etwa mit ungesunder Ernährung und Übergewicht zurückgehen. / © Getty Images/Motortion
Dass die Menschen in Europa immer älter werden, galt lange Zeit als Binsenweisheit. Schließlich wurde die medizinische Versorgung immer besser, die Ernährung vielfältiger und der allgemeine Lebensstandard stieg. Eine Studie der britischen University of East Anglia zeigt nun, dass sich das Blatt gewendet hat: In den meisten Ländern – auch in Deutschland – geht die Lebenserwartung wieder zurück.
Der Hauptgrund dafür liegt nicht etwa in der Coronapandemie, die 2019 ihren Anfang nahm, sondern in einem signifikanten Anstieg der Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, betonen die Autoren der Studie, die in der medizinischen Fachzeitschrift »The Lancet« veröffentlicht wurde. Als hauptsächliche Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen nennt die Studie Bluthochdruck, eine ungesunde Ernährung, einen hohen Cholesterolspiegel sowie Rauchen und Übergewicht.
Deutschland verzeichnete, zusammen mit Griechenland, Italien, Portugal, Frankreich, Österreich, den Niederlanden, Spanien, Luxemburg und Finnland, die höchsten Rückgänge in der Lebenserwartung. In Europa gebe es zwischen den Ländern erhebliche Unterschiede von bis zu acht Jahren zwischen der höchsten und der niedrigsten Lebenserwartung, heißt es auch in einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
Zu den wesentlichen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen gehörten Übergewicht und Bewegungsmangel, die zudem das Risiko für Bluthochdruck, Schlaganfall, Typ-2-Diabetes und auch bestimmte Krebsarten erhöhen, betont Frederike Gramm, Gesundheitswissenschaftlerin bei der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK), im Gespräch mit PTA-Forum. Um die Zunahme dieser Leiden zu stoppen, brauche es dringend mehr Prävention, »und zwar nicht nur auf der Ebene des persönlichen Gesundheitsverhaltens der Menschen, sondern auch durch Maßnahmen, die die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse gesünder gestalten – das zeigt einmal mehr die aktuelle Studie«.
Diese belegt, dass Länder mit präventiven langfristigen Investitionen – beispielsweise in die Verbesserung der Ernährung – eine höhere Lebenserwartung verzeichnen. So wie Norwegen, dessen Gesundheitssystem Prävention auf allen Ebenen großschreibt. Dazu zählen nicht nur regelmäßige Gesundheitschecks, frühzeitige Diagnosen und groß angelegte Vorsorgeprogramme, sondern auch wirksame Maßnahmen, um Risikofaktoren einzudämmen. So hätten hohe Tabaksteuern, strikte Rauchverbote und intensive Aufklärungskampagnen die Raucherquote in Norwegen drastisch gesenkt, heißt es in der Studie. Zucker- und Fettsteuern wiederum lenkten das Konsumverhalten in eine gesündere Richtung, während staatliche Kampagnen für eine ausgewogene Ernährung werben. Schließlich seien Städte und Arbeitsmodelle darauf ausgerichtet, Bewegung in den Alltag zu integrieren – etwa durch eine fahrradfreundliche Infrastruktur und flexible Arbeitszeiten.
Derlei Maßnahmen fordert DANK auch für Deutschland. Allein die Besteuerung von Lebensmitteln könne das Verbraucherverhalten enorm beeinflussen. In Deutschland seien ungesunde, stark verarbeitete Lebensmittel und Getränke mit hohem Zucker-, Salz- oder Fettgehalt vergleichsweise günstig – trotz Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO, den Zucker-, Fett- und Salzgehalt in Lebensmitteln zu reduzieren und den Konsum von gesunden Lebensmitteln zu fördern. »Eine differenzierte Lebensmittelsteuer, die gesunde Lebensmittel preislich attraktiver macht als ungesunde, könnte das Kaufverhalten in eine gesündere Richtung lenken«, sagt Gramm.
Länder wie Dänemark, Ungarn, Finnland und Frankreich hätten solch eine Steuer bereits mit Erfolg eingeführt. Wichtig ist der Gesundheitswissenschaftlerin auch, »dass das Ziel nicht ist, Lebensmittel generell teurer zu machen, sondern vielmehr, die Hersteller dazu zu bewegen, weniger Zucker, Fett oder Salz zu verwenden und ihre Produkte gesünder zu gestalten – und langfristig auch erschwinglicher zu halten. Die gesunde Wahl muss die einfache Wahl sein.« Derzeit machen steigende Lebensmittelmittelpreise gesunde Mahlzeiten für Millionen einkommensschwache Menschen in Europa unerschwinglich – das Phänomen ist unter Fachleuten auch unter dem Begriff der Essenswüste (»food desert«) bekannt.
Ebenso wichtig wie die differenzierte Besteuerung von Lebensmitteln sei mehr Kinderschutz in der Lebensmittelwerbung. Heute bewerbe die Lebensmittelindustrie fast nur ungesunde Nahrungsmittel, die viel Zucker, Fett oder Salz enthielten und Übergewicht förderten. Für Kinder und Jugendliche, die in dieser Lebensphase oft ihre Ernährungsgewohnheiten für das ganze Leben entwickeln, könne solche Werbung gesundheitlich nachteilig sein. Da freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie bislang wirkungslos geblieben seien, halten einige Experten verpflichtende Regelungen für notwendig. So wie etwa in Großbritannien: Dort wird ab Oktober 2025 die Werbung für süße Joghurts, Muffins oder andere Lebensmittel mit hohem Fett-, Salz- und Zuckergehalt im Fernsehen vor 21 Uhr und im Internet rund um die Uhr verboten sein.
Als internationaler Vorreiter im Kampf gegen Fehlernährung und ernährungsbedingte Krankheiten gilt auch Chile. Das südamerikanische Land hat bereits 2018 unter anderem ein Verbot der Werbung für unausgewogene Lebensmittel zwischen 6 und 22 Uhr eingeführt. »Das hat – in Kombination mit Warnhinweisen auf ungesunden Lebensmitteln – in Chile tatsächlich dazu beigetragen, dass der Konsum von zuckerhaltigen Produkten zurückgegangen ist«, berichtet Gramm.
Auch die Verpflegung in Schulen und Kindergärten kann einen nachhaltigen Beitrag zum Gesundheitsverhalten in der Bevölkerung insgesamt leisten. Zur standardmäßigen Verbesserung der Schulverpflegung hat die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz bereits im Jahr 2007 Qualitätsstandards erarbeitet – die aber nicht verpflichtend sind.
Was die Autoren der Studie der Universität von East Anglia mehrfach betonen, ist auch, wie bedeutend soziale Faktoren wie zunehmende Armut und Ungleichheit im Hinblick auf die Gesundheit der Bevölkerung sind. »Die starken Kürzungen der Mittel für Gesundheit, Sozialfürsorge und Wohlfahrt seit 2010, insbesondere in Gebieten mit sozioökonomischer Benachteiligung, wirkten sich auf die sozialen Determinanten der Gesundheit aus und trugen daher zur Verlangsamung der Sterblichkeitsverbesserung bei«, schreiben sie. Die Europäische Union hat derweil Maßnahmen zur Bekämpfung ihrer wichtigsten Gesundheitsprobleme, wie etwa den Europäischen Plan zur Krebsbekämpfung und Maßnahmen gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aus dem Arbeitsprogramm der Kommission für 2025 gestrichen – eine kontroverse Entscheidung.
Interessant ist auch, dass sich die Lebenserwartung auch innerhalb Deutschlands unterscheidet. So kam eine Studie der Universität Rostock 2020 zu dem Ergebnis, dass die mittlere Lebenserwartung von Männern in den Jahren 2015 bis 2017 in Bremerhaven mit 76 Jahren am niedrigsten und im Kreis München mit 81 Jahren am höchsten lag. Frauen wurden im Kreis Starnberg nahe München mit durchschnittlich 86 Jahren am ältesten, die niedrigste Lebenserwartung mit rund 82 Jahren hatten sie im Salzlandkreis in Sachsen-Anhalt.
Auffällig ist, dass die Lebenserwartung in ländlichen Regionen Ostdeutschlands sowie in einigen Kreisen des Ruhrgebiets vergleichsweise niedrig ist. Vor allem in Baden-Württemberg und Südbayern liegt sie hingegen deutlich höher. Die Studienautoren weisen darauf hin, dass vor allem benachteiligte Bevölkerungsgruppen mit einer eher niedrigen Lebenserwartung in Verbindung stehen. So gebe es einen Zusammenhang zwischen der Arbeitslosenquote in einem Landkreis und der örtlichen Lebenserwartung.
An diesen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kann die PTA in der Apotheke natürlich nichts ändern. Dennoch sei die Apotheke eine wichtige, niederschwellige Instanz der Gesundheitsberatung, betont Gramm. »Im Beratungsgespräch darauf hinzuweisen, dass eine gesunde Lebensweise eine wichtige Ergänzung zur medizinischen Therapie sein kann, und auch Informationsmaterial dazu auszulegen, ist auf jeden Fall hilfreich.«