Lip- und Lymphödem frühzeitig behandeln |
Die Entstauungstherapie ist sowohl beim Lymph- als auch beim Lipödem eine wichtige Therapiemaßnahme. / Foto: Adobe Stock/tibanna79
Das menschliche Lymphsystem gehört zu den ersten Strukturen, die sich während der Embryonalentwicklung ausbilden. Es ist bereits in der fünften Schwangerschaftswoche angelegt. Im späteren Leben wird es Teil des Immunsystems, dient dem Transport von Lipiden und sorgt für den Abtransport der proteinreichen Lymphflüssigkeit aus den Zellzwischenräumen. Im gesunden Organismus besteht ein Gleichgewicht zwischen Bildung und Abtransport von Lymphflüssigkeit, das jedoch durch Schäden oder Fehlbildungen am Lymphsystem nachhaltig gestört werden kann. Sinkt die Transportkapazität des Lymphsystems, staut sich die Lymphflüssigkeit im Gewebe – ein Ödem entsteht.
Lymphödeme treten in den westlichen Industriestaaten am häufigsten bei Frauen nach einer Brustkrebsbehandlung auf, können aber auch alle andere Krebspatienten betreffen, deren Lymphsystem durch eine Operation und/oder Bestrahlung stark geschädigt wurde. Ebenfalls als Auslöser bekannt sind schwere Traumata, bei denen Lymphbahnen zerreißen, rezidivierende Lymphbahnen- oder Lymphknotenentzündungen sowie Filariosen, also Infektionen mit bestimmten Fadenwürmern. Eine Sonderrolle nimmt das maligne Lymphödem ein. Hier kommt es durch das Wachstum des Tumors zu einer Verlegung der Lymphbahnen, die einer gesonderten Therapie bedarf.
Wird ein Lymphödem im Laufe des Lebens durch Krankheit oder Verletzung erworben, sprechen Mediziner von einem sekundären Lymphödem. Primäre Lymphödeme sind wesentlich seltener und entstehen in den meisten Fällen durch spontan auftretende Fehlbildungen. Nur ein geringer Teil kann auf einen vererbbaren Gendefekt zurückgeführt werden. Der Zeitpunkt, an dem sich ein primäres Lymphödem bemerkbar macht, ist individuell verschieden. Einige Betroffene entwickeln bereits in der Kindheit Symptome, andere erst im Erwachsenenalter.
Grundsätzlich können sich Lymphödeme überall am Körper bilden, auch innere Organe oder Körperhöhlen können betroffen sein. Am häufigsten manifestiert sich das Lymphödem jedoch an den Extremitäten. Welche das sind und ob eine oder beide Körperhälften betroffen sind, hängt von der auslösenden Ursache ab.
Das Lipödem ist eine chronische Fettverteilungsstörung, bei der es zu einer zunehmenden Vermehrung und Vergrößerung der Fettzellen im Unterhautfettgewebe kommt. Zusätzlich treten Veränderungen am Bindegewebe auf und die Durchlässigkeit der Kapillaren nimmt zu. Die Betroffenen leiden neben der Volumenzunahme unter Spannungsgefühlen, Druck- und Berührungsempfindlichkeit sowie Schmerzen im Fettgewebe der betroffenen Bereiche. Häufig wird zudem eine Neigung zu Blutergüssen bemerkt, für die bereits leichte Stöße ausreichend sind.
In den meisten Fällen tritt das Lipödem an den Beinen auf, wobei die Lage variieren kann. Beim sogenannten Reiterhosenphänomen sind Oberschenkel und Gesäß betroffen, beim Bundhosenphänomen der Unterschenkel, beim Suavenhosenphänomen das gesamte Bein. Bei einem Teil der Betroffenen kommt es darüber hinaus zu einer Mitbeteiligung der Arme.
Charakteristisch für das Lipödem ist, dass die Fettgewebsvermehrung symmetrisch auftritt, immer beide Extremitäten betrifft und Hände, Füße sowie Rumpf unbeteiligt bleiben. Erst im fortgeschrittenen Krankheitsstadium erhöht sich der Druck mitunter so stark, dass Lymphflüssigkeit nicht mehr abfließen kann und sich zusätzlich ein Lymphödem bildet. Mediziner bezeichnen diese »Mischform« als Lipo-Lymph-Ödem, das dann auch Füße und Hände betreffen kann.
Das reine Lipödem hat deutliche Disproportionen zur Folge, die bei gleichzeitig bestehender Adipositas jedoch verschleiert werden können. Letztere findet sich bei 75 bis 80 Prozent der Betroffenen als Komorbidität, der Grund für diese übermäßige Häufung ist derzeit unklar. Fest steht jedoch, dass die Adipositas nicht die Ursache des Lipödems ist. Lipödeme sind diätresistent, das Fettgewebe lässt sich selbst mit stark reduzierter Kalorienzufuhr nicht verringern.
Wissenschaftler gehen inzwischen davon aus, dass neben einer genetischen Komponente vor allem weibliche Geschlechtshormone eine entscheidende Rolle in der Krankheitsentstehung spielen. Dafür spricht, dass das Lipödem fast ausschließlich bei Frauen auftritt, meist nach hormonellen Umstellungen wie der Pubertät, einer Schwangerschaft, dem Einnahmebeginn hormoneller Verhütungsmittel oder in seltenen Fällen auch mit den Wechseljahren. Bei Männern ist das Lipödem äußerst selten. Wenn es sich entwickelt, dann als Folge einer ausgeprägten hormonellen Störung, die im Rahmen einer Hormonbehandlung auftreten kann.
Oft vergehen Jahre, in denen die Betroffenen versuchen, das Lipödem mit Sport und Diäten zu reduzieren, teils auch auf ärztliches Anraten, wenn das Lipödem als Adipositas verkannt wird. Experten empfehlen deshalb, sich frühzeitig an einen auf Lipödeme spezialisierten Arzt zu wenden. Dazu zählen Lymphologen, Phlebologen sowie Fachärzte für plastische und ästhetische Chirurgie.
Entscheidend für die Behandlung des Lymph- und Lipödems ist der Faktor Zeit. Beide Erkrankungen gelten unbehandelt als fortschreitend und verlaufen über mehrere Stadien. Je früher eine Therapie begonnen wird, umso besser stehen die Chancen, die Erkrankung zu stabilisieren, ein Fortschreiten und Komplikationen zu verhindern sowie Symptome zu lindern.
Die Stadien des Lymphödems:
Die Krankheitsstadien des Lipödems:
Das derzeit wirkungsvollste, nicht invasive Mittel für die Behandlung sowohl von Lymph- als auch Lipödemen ist die komplexe physikalische Entstauungstherapie (KPE). Sie setzt sich aus mehreren verschiedenen Therapien zusammen, die bei beiden Erkrankungen unterschiedlich gewichtet werden. So spielen die manuelle Lymphdrainage, bei der durch Dehnreize auf Haut und Unterhaut die Lymphbildung und der Lymphfluss angeregt werden, und die Kompressionstherapie mit Bandagen beim Lymphödem in den ersten zwei bis sechs Wochen der Behandlung (Entstauungsphase) eine besonders wichtige Rolle. Sie sollen den Einstrom der Gewebsflüssigkeit in das Lymphgefäßsystem verstärken und den Lymphfluss in den noch funktionsfähigen Lymphgefäßen erhöhen.
Bei einem Lymphödem kann diese Phase je nach Stadium der Erkrankung mitunter ganz übersprungen werden. Betroffene starten direkt mit der sogenannten Erhaltungsphase, in der sich die Behandlungshäufigkeit nach der Wiederbildung des Ödems ohne Lymphdrainage richtet. Die Kompressionsbandage muss nur noch am Therapietag getragen werden, dazwischen kommen Kompressionsstrümpfe zum Einsatz. Ergänzt werden Lymphdrainage und Kompressionsbehandlung durch eine konsequente Hautpflege. Der direkte Kontakt mit den Kompressionsmaterialien und die lange Tragedauer können die Haut austrocknen und kleine Hautrisse begünstigen.
Eine weitere wichtige Komponente der KPE ist die sportliche Aktivität und das Ausführen gezielter Übungen mit den betroffenen Extremitäten. Durch die Kontraktion der Muskeln wird der Druck auf die Zellzwischenräume erhöht und der Abtransport der Gewebsflüssigkeit gefördert. Schwellungen, Druckgefühle und Schmerzen werden reduziert. Insbesondere bei Lipödem-Betroffenen, aber auch bei übergewichtigen oder adipösen Lympödem-Patientinnen sind auch Ernährung und Gewichtsmanagement von Bedeutung, um einer Verschlimmerung der Erkrankung vorzubeugen.
Beseitigen kann die KPE ein Lip- oder Lymphödem nicht. Beim Lymphödem ist sie dennoch für die meisten Betroffenen die einzige Behandlungsoption, da eine operative Therapie nur in Ausnahmefällen in Frage kommt. Lipödem-Betroffene können eine operative Fettabsaugung (Liposuktion) in Erwägung ziehen. Dabei werden die Fettzellen mittels Ultraschall, Wasserstrahl oder Vibration vom umliegenden Gewebe gelöst und über ein Endoskop abgesaugt. Die Liposuktion dauert etwa zwei Stunden, in denen zwischen 4 und 8 Liter Fett entfernt werden können. Je nach Ausprägung der Erkrankung können mehrere Eingriffe im Abstand von einigen Wochen notwendig sein, bis das gesamte Lipödem entfernt ist.
Vielen Betroffenen verschafft die Liposuktion deutliche Beschwerdelinderung, eine Heilung des Lipödems wird jedoch auch mit der Operation nicht erreicht. Um ein erneutes Aufkommen der Fettgewebsvermehrung zu verhindern, sind konservative Therapiemaßnahmen weiterhin notwendig. Zudem ist es wichtig, die Ernährung anzupassen, da der Energiebedarf durch das Entfernen der Fettzellen sinkt.
Seit Januar 2020 wird die Liposuktion bei einem Lipödem in Stadium 3 von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen, wenn der Body-Mass-Index (BMI) der Betroffenen unter 35 liegt und die Beschwerden in den vergangenen sechs Monaten mit einer konservativen Therapie nicht gelindert werden konnten. Bei einem BMI > 35 sollte zusätzlich zur Liposuktion eine Behandlung der Adipositas stattfinden. Bei einem BMI ab 40 ist die Liposuktion weiterhin keine Kassenleistung, da zunächst die Adipositas behandelt werden sollte. Derzeit gilt diese Regelung bis Ende 2024. Parallel läuft eine Erprobungsstudie, die klären soll, welchen Nutzen die Liposuktion im Vergleich zur konservativen Therapie in allen drei Krankheitsstadien hat.
Die psychische Belastung, die von Lymph- und Lipödemen ausgeht, ist für die meisten Betroffenen hoch. Sie hadern mit dem Aussehen des eigenen Körpers oder dem Tragen der Kompressionskleidung. Sie leiden unter der Abwertung durch andere und sind Stigmatisierung ausgesetzt. Lipödem-Betroffene erleben zudem häufig ein hohes Ausmaß an Frustration und Selbstzweifeln, wenn vermeintlich notwendige Diäten und Sport über Jahre fehlschlagen. Ist die Diagnose gestellt, müssen sie verarbeiten, künftig mit einer chronischen Krankheit zu leben und diese in die Lebensplanung integrieren zu müssen. Beim Lipödem kommt erschwerend hinzu, dass 80 Prozent der Betroffenen permanente Schmerzen in den betroffenen Körperbereichen wahrnehmen. Bekannt ist, dass – wie bei anderen chronischen Schmerzerkrankungen auch – ein enger Zusammenhang zwischen der psychischen Belastung und den empfundenen Schmerzen besteht.
Sowohl Lipödem- als auch Lymphödem-Patienten profitieren von einer begleitenden psychologischen Unterstützung, die inzwischen häufig als zusätzliche Komponente zur KPE empfohlen wird. Hier kann der Rahmen für eine bewusste Auseinandersetzung mit der Erkrankung geschaffen werden. Die Körperakzeptanz wird verbessert und Strategien vermittelt, mit Schmerzen und negativem Stress umzugehen.
Unbestritten ist, dass sich Bewegung und Sport positiv auf beide Erkrankungen auswirken. Beides fällt jedoch schwer, wenn Schmerzen bestehen oder die Beweglichkeit in fortgeschrittenen Erkrankungsstadien eingeschränkt ist. Einige der Betroffenen schämen sich zudem, die Kompressionskleidung im öffentlichen Raum zeigen zu müssen.
Ein unterstützendes und motivierendes Umfeld ist für Lymph- und Lipödem-Betroffene von großer Bedeutung. Oft werden Gruppenaktivitäten wie Walking, Schwimmen, Tanzen oder Yoga, die in einem sicheren Rahmen oder gemeinsam mit anderen Betroffenen stattfinden, empfohlen. Auch außerhalb des sportlichen Rahmens wird der Austausch mit anderen Betroffenen in Selbsthilfegruppen von vielen Menschen mit Lymph- oder Lipödem als positiv erlebt. Einen Überblick über regionale Angebote sowie die zugehörigen Kontaktdaten bieten zum Beispiel die folgende Organisationen an: