Lohnt sich regelmäßiges Gehirntraining? |
Vor allem Neues zu lernen – etwa ein Musikinstrument – hält das Gehirn fit. / Foto: Getty Images/Zero Creatives
Seit Jahren steigt die durchschnittliche Lebenserwartung. In den Industrieländern hat sie sich in den vergangenen 120 Jahren sogar verdoppelt. Die Lebenszeit gut zu nutzen und lange geistig fit zu bleiben, ist der Wunsch vieler Menschen. Doch der »geistige Verfall« beginnt früh. Bereits ab dem 20. Geburtstag verliert das Gehirn alle zehn Jahre bis zu 10 Prozent seiner Synapsen. Besonders hoch ist der Verlust im Arbeitsgedächtnis und Hippocampus.
Das Arbeitsgedächtnis steuert Aufmerksamkeit und Konzentration und selektiert Informationen, die im Gedächtnis gespeichert werden sollen. Der Hippocampus ist für die dauerhafte Speicherung und die Bildung von Erinnerungen verantwortlich. Je geringer seine Kapazität, umso schwieriger ist es, sich etwas zu merken und später daran zu erinnern.
Typisch für das alternde Gehirn: Es wird immer langsamer. Das liegt zum einen daran, dass die Informationsverarbeitung aufgrund der Abnahme der Synapsen länger dauert. Zum anderen hat das Arbeitsgedächtnis mit zunehmendem Alter immer neue Aufgaben zu bewältigen. Viele Menschen hören und sehen schlechter. Umweltinformationen, die von den Sinnesorganen an das Gehirn übermittelt werden, werden dadurch immer unzuverlässiger. Das Gehirn muss die fehlenden Informationen ausgleichen, indem es auf gespeicherte Informationen zurückgreift. Auch körperliche Einbußen, etwa durch Gelenkerkrankungen oder eine schwächere Muskelkraft, machen es erforderlich, dass Alltagstätigkeiten wie etwa Treppensteigen wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Konzentration erfordern als in jungen Jahren. Dem Arbeitsgedächtnis fehlt es dadurch zunehmend an Kapazität, sich auf seine eigentlichen Aufgaben – Lernen und Erinnern – zu konzentrieren.
Viele Menschen wollen etwas für ihre geistige Fitness tun. Und nicht wenige hoffen, mit dem regelmäßigen Lösen von beliebten Rätselspielen wie Sudokus, mit Kreuzworträtseln, Lesen oder Kartenspielen ihr Gehirn ausreichend zu fordern. Doch Wissenschaftler müssen hier enttäuschen. Das Training für das Gehirn muss ebenso wie körperliches Training intensiv, anstrengend und herausfordernd sein. Kreuzworträtsel und Sudokus sind dafür in der Regel viel zu einfach. Die Wörter und Abläufe wiederholen sich, sodass das Gehirn auf gut eingeprägte Automatismen zurückgreifen kann, um die Aufgaben zu bearbeiten. Dasselbe gilt vermutlich für Lesen oder Spiele spielen. Auswirkungen auf die Fähigkeiten des Gehirns haben sie deshalb eher nicht.
Mehr Erfolg versprechen Gehirntrainingsprogramme, die regelmäßig am Computer, Tablet oder Smartphone absolviert werden können. Die Denksportaufgaben mit steigendem Schwierigkeitsgrad sollen das Gehirn jung halten und bei Älteren sogar verjüngen können. Doch ob Gehirntrainings tatsächlich halten, was sie versprechen, ist wissenschaftlich nur schwer nachzuvollziehen. Während bei physischem Training eine Zunahme der Muskelmasse eindeutig mit einer allgemeinen Kraftzunahme im Alltag einhergeht, wird bei Gehirntrainingsprogrammen vor allem die Fähigkeit trainiert, ähnliche Aufgaben immer besser und schneller zu lösen. Für den Nutzer ist das zwar grundsätzlich ein Erfolg. Ob der Effekt jedoch auch auf die Merkfähigkeit, eine schnellere Wahrnehmung oder die Lösungsfertigkeit komplexer Aufgaben im Alltag übertragbar ist und hier eine Leistungssteigerung erreicht werden kann, ist bisher nicht eindeutig belegt.
Wer sich geistig fit halten will, dem raten Wissenschaftler vor allem dazu, Neues zu lernen. Das Gehirn besitzt eine hohe Plastizität und verändert sich auch in hohem Alter bei Lernvorgängen noch deutlich. Aus Untersuchungen, bei denen ältere Menschen ein Instrument erlernt haben, ist bekannt, dass die Gehirne ganz ähnlich reagieren wie bei jungen Menschen, die ein Instrument lernen. Beim Musizieren werden neben den Hörarealen Strukturen für Vorausplanung und Erinnerung sowie die Motorik geschult. Möglicherweise ist das ein Grund dafür, dass Menschen, die im Alter musizieren, seltener an Demenz erkranken.
Auch eine neue Sprache zu erlernen und ein vielfältiges Sozialleben fördern die geistige Fitness. Während eines Gesprächs muss das Gehirn sein Gegenüber einordnen, sich an den Namen und die letzte Begegnung erinnern. Ein Gesprächsthema muss gewählt und aufrechterhalten werden. Zudem spielen im Zusammenhang mit sozialen Kontakten Emotionen eine große Rolle. Sympathie oder Antipathie für den anderen Menschen bestimmen, ob das Gespräch Spaß macht oder als Belastung empfunden wird. Diese Emotionen wiederum speichert das Gehirn und verknüpft sie mit Informationen aus dem Gespräch. Später sind die Emotionen der Schlüssel für die Erinnerung an den Gesprächsinhalt.
Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts waren Neurowissenschaftler davon überzeugt, dass Nervenzellen nicht nachwachsen. Sie gingen vielmehr davon aus, dass die Anzahl der Gehirnzellen mit der Geburt angelegt ist und im Laufe des Lebens ausschließlich ein Abbau der Grundmasse stattfindet. Inzwischen gilt diese Ansicht als überholt. Im Hippocampus von Erwachsenen produzieren Stammzellen während des gesamten Lebens neue Nervenzellen.
Ebenfalls für ausgeschlossen hielten Neurowissenschaftler, dass im Alter neue Verbindungen zwischen Nervenzellen geknüpft werden können. Auch dieses Bild hat sich in den letzten Jahren gewandelt. So ist inzwischen bekannt, dass Gehen und Laufen die Ausschüttung des Proteins Nervenwachstumsfaktor anregen. Dieses wiederum fördert die Ausbildung neuer Synapsen und bewirkt damit den Aufbau neuer Netzwerke im Gehirn.
Regelmäßige Bewegung wird deshalb als wichtiger Faktor für die Aufrechterhaltung der geistigen Fitness gesehen. Neben dem Aufbau von Synapsen, schützt sie den Hippocampus vor Abbauvorgängen und stimuliert die Produktion neuer Nervenzellen. Um positive Effekte zu erzielen, reicht es bereits, zwei- bis dreimal pro Woche für etwa eine Stunde zügig zu gehen. Spazierengehen hat zudem weitere Vorteile. Die Gehirnstruktur profitiert vom Aufenthalt im Freien, selbst wenn er noch so kurz ist. Das gilt unabhängig davon, ob man sich in der Stadt oder im Grünen bewegt.
Zudem kann ein weiterer Aspekt berücksichtigt werden, der dem geistigen Abbau effektiv entgegenwirkt: das Gehirn möglichst oft mit unbekannten und neuen Informationen zu konfrontieren. Dafür reicht es, den Spaziergang in umgekehrter Richtung zu machen, einen neuen Stadtteil zu erkunden oder eine unbekannte Wanderroute auszuprobieren. Jede Veränderung fordert die Hirnregionen, die im Alter am stärksten vom Abbau betroffen sind.