Macht Verzicht glücklich? |
Weniger ist mehr: Minimalisten wollen sich auf das Wesentliche konzentrieren, Überflüssiges soll bewusst reduziert werden. / © Getty Images/fizkes
Schätzungen zufolge verfügt ein durchschnittlicher Europäer über 10.000 Dinge. Viele davon wurden seit Jahren nicht benutzt, stehen vergessen im Keller oder stapeln sich im Küchenschrank, weil sie irgendwann in der Zukunft möglicherweise noch einmal hilfreich sein könnten. Doch warum fällt es vielen Menschen so schwer, sich von Dingen zu trennen, die seit Jahren keinen Mehrwert liefern?
Glaubt man Sozialwissenschaftlern, liegt dies in den meisten Fällen nicht an dem Gegenstand selbst oder seinem direkten Nutzen, sondern an seiner psychosozialen Funktion. Gegenstände können mit Erinnerungen verbunden sein, Ausdruck der Persönlichkeit sein oder die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe symbolisieren. Zudem bauen Menschen äußerst schnell eine emotionale Bindung zu Gegenständen auf, wie Sara Kiesler von der Carnegie Mellon School of Computer Science in Pittsburgh nachweisen konnte. Die Wissenschaftlerin zeigte einer Gruppe von Studenten einen Film, in dem sich geometrische Figuren bewegten und zum Teil kollidierten. Studienteilnehmer, die ausschließlich den Film sahen, fühlten sich durch ihn vor allem gelangweilt. Anders sah es bei den Studenten aus, denen zuvor gesagt wurde, dass ihnen ein bestimmtes kleines Dreieck gehören würde. Sie reagierten auf das karge Geschehen emotional und entwickelten das Gefühl, »ihr« Dreieck würde von anderen Figuren angegriffen werden.
Die emotionale Bindung zu Gegenständen kann bisweilen so stark werden, dass sie krankhafte Ausmaße annimmt. Psychologen sprechen von pathologischem Horten, wenn Menschen Dinge im großen Stil ansammeln, die andere als völlig wertlos erachten. Trotz Unbewohnbarkeit von Räumen und starken persönlichen Einschränkungen können sich Betroffene nicht von ihrem Besitz trennen. Aber auch ohne Messie-Syndrom können Aufräum- und Ausmistaktionen als schmerzhafter Verlust erlebt werden, weshalb sie gerne vermieden und die Sachen lieber eingelagert werden.
Dass wir überhaupt so viele Besitztümer anhäufen können, ist vor allem unserem Wohlstand und der westlichen Wirtschaft zu verdanken. Sie suggeriert uns fast pausenlos, dass dieser oder jener Gegenstand fehlen würde, um wirklich glücklich sein zu können. Dazu kommen Vergleiche mit anderen Menschen und das Mithalten wollen mit sozialen Gruppen. Nachhaltig zufrieden macht das oft nicht. So ist bekannt, dass eine materialistische Einstellung, bei der das eigene Wohlbefinden stark vom Erwerb und Besitz bestimmter Produkte abhängt, negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hat. Materialisten gelten als tendenziell ängstlicher, unzufriedener, neigen zu Spontankäufen und haben häufiger finanzielle Schwierigkeiten.
In zahlreichen Untersuchungen konnte zudem gezeigt werden, dass Erfahrungen und Erlebnisse deutlich zufriedener machen als materielle Anschaffungen. Verantwortlich dafür ist in erster Linie der Prozess der Adaption. Das Gehirn ist darauf ausgelegt, Neues schnell als neue Normalität anzuerkennen. Die Freude über eine große Neuanschaffung verfliegt deshalb meist schneller als erwartet. Erfahrungen und Erlebnisse hingegen wirken nachhaltiger und prägen darüber hinaus die Identität stärker als Gegenstände. Sie verbinden uns mit den Menschen, mit denen die Erfahrung geteilt wurde und hinterlassen deutliche Spuren im Gedächtnis.
Viele Menschen spüren das und suchen nach Möglichkeiten, dem Stress des „Konsumzwangs“ zu entkommen. Eine davon ist die Umstellung auf ein minimalistisches Leben. Hierbei werden Besitz und materieller Konsum bewusst auf das wirklich Notwendige beschränkt. Ziel ist es, eine höhere Lebensqualität sowie mehr Bedeutung für die im Leben verbliebenen Dingen zu erlangen.
Aussortieren, entrümpeln, Verbliebenes wertschätzen und den Konsum nachhaltig reduzieren: Das sind die Kernthemen des Minimalismus. Diese müssen sich aber nicht (nur) auf den eigenen Besitz beziehen. Unter dem Schlagwort »relationship minimalism« geht es um die Auseinandersetzung mit aufmerksamkeits- und zeitbeanspruchenden Beziehungen und ihre Entbehrlichkeit. Beim »mental minimalism« steht die eigene Gedanken- und Gefühlswelt sowie das Ablegen der hinderlichen Anteile im Fokus. Der Begriff »Skinimalism« steht für eine minimalistische Hautpflege, die auf wenige Produkte mit ausgewählten und möglichst wenig Inhaltsstoffen setzt.
Minimalismus ist kein neuer Trend, hat es aber in den vergangenen Jahren zu enormer Beliebtheit geschafft. Auf Instagram und Youtube tummeln sich Influencer, die Einblicke in ihr Leben geben, es werden praktische Anleitungen und Tipps geteilt. Es gibt unzählige Bücher und Blogs zum Thema. Und auch die Forschung setzt sich mit Minimalismus als Lebensstil auseinander. Dabei wird klar: Minimalismus wird individuell ganz unterschiedlich gelebt und findet sich in einer großen Bandbreite.
In den Sozialwissenschaften werden inzwischen drei verschiedene Typen definiert: Auf Stufe 1 stehen die moderaten Minimalisten. Sie konzentrieren sich auf das Ausmisten überflüssig gewordener Gegenstände und verzichten in ausgewählten Lebensbereichen bewusst auf Konsumgüter, während andere Lebensbereiche davon unangetastet bleiben. Auf Stufe 2 finden sich die starken Minimalisten. Sie verzichten bewusst auf eine (stressige) Karriere und reduzieren freiwillig ihr Einkommen, um sich Themen widmen zu können, die ihnen bedeutsamer erscheinen. Der Lebensstil wird hierbei in der Regel stark reduziert. Noch einen Schritt weiter gehen die ganzheitlichen Minimalisten. Ihr Besitz ist auf wenige ausgewählte Dinge reduziert, der Wohnraum minimiert. Sie verzichten vollständig auf Konsum und führen ein Leben als Selbstversorger. Wichtig für alle drei Minimalismus-Typen ist, dass die Wahl des Lebensstils freiwillig erfolgt, um eine klare Abgrenzung zu prekären Lebensbedingungen aus wirtschaftlicher Not heraus zu schaffen.
Wie stark sich die einzelnen Auslegungen von Minimalismus auf das Wohlbefinden seiner Anwender tatsächlich auswirken, ist bisher wenig untersucht. In einer Metaanalyse der University of North Texas mit 23 Studien konnte zwar bestätigt werden, dass ein bewusst einfacher Lebensstil mit einem erhöhten Wohlbefinden einhergeht, allerdings nicht für alle Bevölkerungsgruppen. So deutet die Studie daraufhin, dass Menschen mit niedrigem Einkommen stärker vom Minimalismus profitieren als Menschen mit hohen Einkommen. Das Team um Joshua Hook vermutet, dass es Menschen mit hohem Einkommen einfach schwerer fällt, bewusst auf ihren gewohnten Lebensstandard zu verzichten und mit weniger Konsum glücklich zu sein. Zudem konnte die Meta-Studie zeigen, dass die Verbindung von Wohlbefinden und Minimalismus stärker ausgeprägt ist, je älter die Studienteilnehmer waren.
Darüber hinaus wird Minimalismus nicht nur positiv gesehen. Psychologen weisen darauf hin, dass auch hinter einer minimalistischen Lebenseinstellung immer die Vorstellung steckt, das eigene Wohlbefinden über die richtigen Konsumentscheidungen steuern zu können. Der Disziplinierungs- und Optimierungsanspruch an das eigene Selbst kann dabei schnell überfordernd wirken. Kritisch wird zudem der Umstand gesehen, dass Unternehmen Minimalisten längst für sich entdeckt haben. Sie nutzen ihre konsumkritische Haltung gezielt in Produkt- und Serviceangeboten sowie in ihrer Kommunikation. Minimalisten liegen im Fokus von Unternehmen, die umweltfreundliche Produkte mit durchaus hohen Preisen anbieten. Denn bekannt ist, Minimalisten legen bei ihren Kaufentscheidungen Wert auf hochwertige und langlebige Produkte. Auch Serviceleistungen wie Mietangebote für Produkte, Car-Sharing oder Reparaturdienstleistungen orientieren sich inzwischen ganz an den Bedürfnissen von Minimalisten und sprechen sie gezielt an.