Mehr als nur zappelig |
Chaos im Kopf: Menschen mit ADHS haben häufig Probleme, ihre Gedanken und Ideen richtig zu ordnen. Sie wirken unkonzentriert, lassen sich leicht ablenken und bringen Sachen oft nicht zu Ende. / Foto: Getty Images/tomertu
Schon vor über hundert Jahren skizzierte Heinrich Hoffmann mit dem Zappelphilipp das volkstümliche Bild eines ADHS-Patienten. Was damals als ungehorsam galt, verstehen Ärzte und Pädagogen mittlerweile als Krankheit: Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ist mehr als nur zappelige Beine und leichte Ablenkbarkeit. Sie betrifft rund 5 Prozent aller Kinder und Jugendlichen.
Betroffene schweifen leicht ab, wirken schusselig und vergesslich. Viele können nur schwer warten, unterbrechen andere ständig im Spiel oder mitten im Satz. Dabei gehen die Auffälligkeiten weit über das normale Ausmaß hinaus und unterscheiden sich je nach Altersstufe. Vorschul- und Schulkinder fallen häufig durch ihre motorische Unruhe auf, da sie kaum still sitzen oder unnötig laut spielen. Bei Jugendlichen äußert sich die Hyperaktivität dagegen eher in innerer Unruhe. Oft entspricht das Verhalten von Erkrankten weder dem Alter noch Entwicklungsstand.
Als charakteristisch für eine ADHS-Erkrankung gelten die drei Kernsymptome:
Sie beginnen in der Regel im Kindesalter und treten in mehreren Lebensbereichen wie zu Hause und in der Schule auf. Definitionsgemäß halten die Beschwerden mindestens seit einem halben Jahr an und Betroffene fühlen sich zumindest moderat eingeschränkt.
Bei ADHS scheinen vor allem Hirnfunktionen gestört zu sein, die von den Neurotransmittern Dopamin oder Noradrenalin gesteuert werden. Bildgebende Verfahren konnten in den 1980er-Jahren erstmalig strukturelle Veränderungen im Gehirn sichtbar machen. Auch bei Messung der Hirnströme fallen Besonderheiten bei der Elektroenzephalografie (EEG) auf. Ärzte gehen mittlerweile von einer genetisch mitbedingten neuronalen Entwicklungsstörung aus. Denn Umwelt und genetische Faktoren interagieren komplex miteinander und frühe Umwelteinflüsse wie das elterliche Verhalten oder Noxen vor und nach der Geburt beeinflussen die strukturelle und funktionelle Hirnentwicklung entscheidend mit.
Heutzutage wird ADHS am ehesten als dimensionale Störung verstanden. Es gibt also kein »Schwarz« oder »Weiß«, sondern jede ADHS ist individuell. Abhängig von den Beeinträchtigungen im Alltag und der Ausprägung der Symptome wird es in leicht-, mittel- und schwergradig unterteilt. Eine exakte Diagnostik ist umfassend, aber wichtig. Denn ähnliche Symptome treten bei zahlreichen anderen Krankheiten auf. Darüber hinaus leiden bis zu 85 Prozent der ADHS-Patienten an weiteren psychischen Erkrankungen. ADHS kommt also selten allein. Auch körperliche Ursachen wie eine Schilddrüsenerkrankung oder Arzneimittelnebenwirkungen müssen ausgeschlossen werden. Bei Kleinkindern unter sechs Jahren ist es selbst für Experten schwierig bis unmöglich, ADHS von Normvarianten abzugrenzen. Impuls- oder Regulierungsstörungen im Baby- oder Kleinkindalter deuten jedoch auf ein erhöhtes Risiko hin.
Steht die Diagnose, entscheiden Arzt und Patient beziehungsweise Eltern gemeinsam über das weitere Vorgehen. Dabei fußt die Behandlung auf mehreren Säulen. Wichtig ist, alle Beteiligten zunächst ausführlich über die Störung aufzuklären. Je nach Schwere, Begleiterkrankungen und Leidensdruck können verschiedene psychosoziale, psychotherapeutische und medikamentöse Interventionen helfen. Allein mit der Verordnung von Tabletten ist es also nicht getan. Eine wichtige Frage bei der Auswahl geeigneter Maßnahmen ist außerdem: Welche wünscht der Patient, welche werden von der Familie mitgetragen?
Das Angebot der sogenannten Psychoedukation ist Grundlage aller Therapiemaßnahmen. Diese kann bei Bedarf beispielsweise durch Verhaltenstherapie, Elterntraining oder Elternberatung intensiviert oder um eine Pharmakotherapie ergänzt werden. Durch die Therapie sollen Betroffene ihre zentralnervösen Ressourcen besser nutzen können. Besonders Kinder unter sechs Jahren sowie leichte Schweregrade werden in erster Linie psychosozial und psychotherapeutisch behandelt.
Genügen diese Maßnahmen nicht, sollten Eltern und Patienten nicht vor einer indizierten Pharmakotherapie zurückschrecken. Denn unbehandelt leiden sie mitunter ein Leben lang: Schlimmstenfalls gipfelt die Symptomatik im Schulabbruch, sozialem Abstieg oder einer Sucht. Zwar lernen Erwachsene mit der Zeit, mit ihrer impulsiven, unkonzentrierten Art umzugehen. Dennoch verwächst sich ADHS nicht einfach. Bei 50 bis 85 Prozent der Betroffenen persistieren Symptome im Erwachsenenalter, jeder Dritte zeigt sogar das Vollbild der Störung. Längsschnittstudien zeigen außerdem, dass ADHS-Patienten neben einem niedrigeren Einkommen und Ausbildungsstand auch eine geringere Lebensqualität aufweisen. Sie übertreten häufiger Gesetze, sind öfter in Verkehrsunfällen verwickelt und anfälliger für Nicotin-, Alkohol- oder Drogensucht.
In der Therapie von Erwachsenen wird deshalb schon bei nur leichter Ausprägung eine medikamentöse Therapie – neben der Psychoedukation – als primäre Option empfohlen. Um Verhaltensänderungen zu erleichtern, spielt auch bei ihnen die Aufklärung und Akzeptanz von ADHS als Störung eine große Rolle. So verbessern sich im Idealfall auch koexistierende Beschwerden wie Depressivität, Angst oder Selbstwertprobleme langfristig.
Pharmakologisch werden zwei Substanzklassen eingesetzt: Stimulanzien wie Methylphenidat, Amphetamin oder Dexamfetamin sowie die Nicht-Stimulanzien Atomoxetin und Guanfacin. Psychostimulanzien heben die Stimmung, vermindern Müdigkeit und steigern die Leistungsfähigkeit. Leider bringen sie ein hohes Missbrauchspotenzial mit sich, was viele Betroffene oder Eltern zunächst ängstigt. Methylphenidat (zum Beispiel in Ritalin®, Medikinet®) ist ihr bekanntester Vertreter und in der Regel die erste Wahl. Es greift je nach Dosis in die Freisetzung verschiedener Neurotransmitter wie Noradrenalin, Serotonin und Dopamin ein.
Auf den ersten Blick wirkt es widersprüchlich, unruhige Kinder mit einem Stimulans zu behandeln. Doch in niedriger, oraler Dosierung erhöhen sie unter anderem die Dopamin-Konzentration im synaptischen Spalt gerade nur so viel, dass hemmende Autorezeptoren verstärkt stimuliert werden. Unter dem Strich reduzieren sie damit die Dopamin-Freisetzung. Dieser Effekt verbessert bei ADHS das impulsive Verhalten, reduziert die Unruhe und unterstützt Problemlösendes Denken. Durch die Freisetzung von Noradrenalin verstärken Stimulanzien außerdem die Wirkung des Sympathikus, sodass häufig Nebenwirkungen wie Blutdrucksteigerung, Herzrasen, Appetitmangel und Gewichtsabnahme auftreten.
Erst eine missbräuchlich hohe und/oder parenterale Dosis führt zum Kick, indem die Dopamin-Freisetzung um das 50- bis 100-Fache ansteigt. Selbst bei geschnupftem Methylphenidat fluten so rasch große Mengen im Gehirn an. Es wird deshalb auch als »Kinderkoks« bezeichnet. Mehr als bei anderen Wirkstoffen gilt also, dass die Dosis darüber entscheidet, ob es Heilmittel oder Gift ist. Etwa 80 bis 85 Prozent der Patienten sprechen auf die Therapie mit Stimulanzien an und profitieren. Bei entsprechender Indikation überwiegen die Vorteile ganz klar gegenüber einer unterlassenen Therapie.
Da Methylphenidat nur kurz wirkt, wird es üblicherweise morgens und mittags eingenommen. Bei retardierten Kapseln genügt hingegen eine einmal tägliche Gabe. Sie geben die halbe Dosis sofort und die andere Hälfte nach etwa vier Stunden frei. Das vereinfacht nicht nur die Therapie, sondern schenkt auch Diskretion, da die Tabletteneinnahme in der Schule entfällt. Bei Therapieversagen oder Nebenwirkungen von Methlyphenidat können Ärzte auf Amphetamin sowie Dexamfetamin (zum Beispiel Attentin®) ausweichen.
Alternativ können Ärzte auf die Nicht-Stimulanzien Atomoxetin oder Guanfacin zurückgreifen. Sie können bei begleitenden Ticks oder Angststörungen vorteilhaft sein, ebenso wenn ein Missbrauch befürchtet wird. Guanfacin wirkt als selektiver Alpha-2-Adrenozeptor-Agonist und wird auch zur Behandlung von Bluthochdruck eingesetzt, weshalb als Nebenwirkung Schläfrigkeit auftreten kann. Atomoxetin hemmt selektiv die Noradrenalin-Wiederaufnahme und wurde ursprünglich als Antidepressivum entwickelt. Patienten müssen sich zu Therapiebeginn allerdings etwas gedulden, da die Wirkung erst nach circa einer Woche eintritt. Zyklusstörungen oder sexuelle Dysfunktionen wie Erektionsstörungen sind möglich. Andere Wirkstoffe wie beispielsweise Serotonin-Wiederaufnahmehemmer werden laut Leitlinie nicht empfohlen. Allenfalls atypische Neuroleptika können bei starker Impulskontrollstörung oder Aggression zeitlich begrenzt empfohlen werden.
Generell gilt: Egal ob Stimulans oder Nicht-Stimulans, der Patient sollte vor und während der Therapie gründlich untersucht und begleitet werden, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ernste Nebenwirkungen auszuschließen. Blutdruck und Puls, aber auch Körpergröße und Gewicht müssen deshalb besonders bei Kindern engmaschig kontrolliert werden. Stockt beispielsweise das Längenwachstum, kann es durchaus in einer Therapiepause in den Ferien aufgeholt werden. Auch Appetitmangel und Gewichtsabnahme sind häufig. Trotzdem sind eine ausgewogene Ernährung und genügend Sport genauso für schlanke Kinder wichtig. Manche profitieren zusätzlich vom Verzicht auf künstliche Farbstoffe und andere Nahrungszusatzstoffe.
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Die Stimulanzien Methylphenidat, Amphetamin und Dexamfetamin unterliegen dem Betäubungsmittelgesetz und dürfen demnach nur auf ein Betäubungsmittel-(BtM-)Rezept verordnet werden. Hierbei gibt es eine Reihe von Formalitäten zu beachten. Zur Erinnerung: Es ist nach dem Tag der Ausstellung noch sieben Tage gültig. Das Arzneimittel muss eindeutig verordnet sein und die Menge des verschriebenen Arzneimittels in Gramm oder Milliliter, Stückzahl der abgeteilten Form angegeben sein. Die Angabe des Wirkstoffs mit einer N-Größe genügt also nicht. Auch eine Dosierung oder Gebrauchsanweisung, Arztstempel und Unterschrift dürfen auf dem Rezept nicht fehlen. Gerade Erwachsene können durchaus höhere Tagesdosen benötigen und dabei mitunter die Höchstmengen überschreiten. Dies ist durch ein »A« zu kennzeichnen.