Mehr Essstörungen bei Jugendlichen |
Verena Schmidt |
27.06.2023 15:30 Uhr |
Einer Untersuchung zufolge zeigen immer mehr Jugendliche ein gestörtes Essverhalten. Viele empfinden einen Druck, einem bestimmten Körperideal entsprechen zu müssen. / Foto: Adobe Stock/Halfpoint
Essstörungen beginnen oft in der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter und damit in einer sensiblen Lebensphase. Laut einer aktuellen Studie der KKH Kaufmännische Krankenkasse leiden 17 von 1000 Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren an einer diagnostizierten Essstörung, bei den 18- bis 29-Jährigen sind es sogar 20 von 1000.
Zwischen 2020 und 2021, also während der Coronapandemie, verzeichnete die Krankenkasse einen starken Anstieg vor allem bei den 12- bis 17-jährigen Mädchen, und zwar um mehr als 30 Prozent. Genau gesagt litten 2021 17,6 von 1000 Jugendlichen in dem Alter an einer Essstörung, ein Jahr zuvor waren es 13,4 und im Vor-Corona-Jahr 2019 12,9 von 1000, wie die Daten der KKH zeigen. Doch diese bilden nur die ärztlich diagnostizierten Fälle ab, die Dunkelziffer sei hoch, schreibt die KKH.
Hinter Essstörungen verbergen sich meist tiefer liegende seelische Probleme. Franziska Klemm, Psychologin bei der KKH, erklärt in einer Pressemitteilung: »Die Gründe für eine Essstörung sind vielfältig und reichen von traumatischen Erlebnissen wie Missbrauch über familiäre Konflikte bis hin zu Leistungsdruck und Mobbing.« Eine immer größere Rolle spielen laut der Krankenkasse auch die sozialen Medien wie Instagram, Youtube oder TikTok. Influencer zeigen dort oft perfekt inszenierte, makellose Bilder und Videos, womit sie ein teils unerreichbares und gefährliches Körperideal propagieren. Oft wird dabei mit sogenannten Beauty-Filtern gearbeitet: Mit nur einem Klick können auf Fotos und in Videos beispielsweise Make-up eingeblendet, Gesichtszüge verändert und auch Körperproportionen angepasst werden.
Jugendliche ständen dann oft unter großem Druck, dem in den sozialen Medien propagierten Körperbild zu entsprechen, schreibt die KKH. »Das kann die Entwicklung eines gestörten Essverhaltens begünstigen, vor allem, wenn Jugendliche bereits unter psychischen Problemen leiden oder einen geringen Selbstwert haben«, erläutert Klemm. Verstärkt während der Pandemie hätten sich Kinder und Jugendliche mit den sozialen Medien beschäftigt, dazu fehlte in Lockdownphasen der echte Kontakt mit Freunden und Mitschülern und somit auch der Vergleich, wie diese im echten Leben aussehen. Stärkende Faktoren wie der persönliche Austausch untereinander sowie Hobbys und ein geregelter Alltag seien in der Pandemie wegfallen. »Das sind alles haltgebende Strukturen, die vor allem in der Pubertät wichtig sind«, so Klemm. Gerät dieses Gefüge in einer so wichtigen Entwicklungsphase für eine längere Zeit ins Wanken, könne das die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen stark beeinflussen. »Einige haben dann versucht, diesen Kontrollverlust zu kompensieren, indem sie sich selbst kontrollieren, zum Beispiel mit Diäten und Sport«, so Klemm.
Betroffene selbst nehmen frühe Alarmsignale oft nicht wahr oder leugnen sie, da die Essstörung zunächst meist viele vermeintlich positive Funktionen erfüllt – sie gibt etwa Kontrolle, Autonomie, Sicherheit und erhöht das Selbstbild. Eltern und Freunde sollten daher besonders auf entsprechende Symptome achten:
Essstörungen betreffen nach wie vor überwiegend Mädchen und junge Frauen, meist beginnt die Erkrankung in der Pubertät. Laut der KKH-Untersuchung sind 79 Prozent der betroffenen 12- bis 17-Jährigen weiblich. Aber auch immer mehr Männer leiden unter Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating. Laut der Untersuchung war der Anstieg bei den Essstörungen in der Gruppe der 18- bis 24-Jährigen unter Männern besonders hoch – 2021 registrierte die Krankenversicherung hier ein Plus von 18,7 Prozent. Bei den männlichen Betroffenen sind die Essstörungen häufig muskelorientiert – um ein als ideal empfundenes muskulöses Körperbild zu erreichen, wird exzessiv Sport getrieben. Die Diagnose ist bei Männern häufig noch schwieriger als bei Frauen, auch suchen sie deutlich seltener Hilfe.
Zwar denken die meisten beim Thema Essstörungen vermutlich zuerst an die Magersucht, tatsächlich ist diese laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) aber die seltenste Erkrankungsform. Von 1000 Mädchen und Frauen erkranken im Laufe ihres Lebens durchschnittlich etwa 28 an einer Binge-Eating-Störung, 19 an Bulimie und 14 an Magersucht. Mischformen der unterschiedlichen Störungen treten dabei mindestens ebenso häufig auf wie die Reinformen der drei Erkrankungsbilder. Bulimie und vor allem die Binge-Eating-Störung beginnen laut BZgA allerdings meist etwas später als die Magersucht, vorwiegend im späteren Jugendalter und jungen Erwachsenenalter.
Binge-Eating heißt auf Deutsch etwa »Ess-Gelage«. Die entsprechende Störung zeichnet sich vor allem durch exzessive, meist heimliche Essanfälle aus, bei denen viele (hochkalorische) Lebensmittel auf einmal verzehrt werden. Genuss oder Hunger spielen bei einem Anfall keine Rolle – die Betroffenen essen meist hastig und hören erst auf, wenn sie sich voll fühlen. Danach schämen sie sich für den Kontrollverlust und ekeln sich vor sich selbst. Solche Essanfälle treten häufig nach starken Gefühlen wie Ärger, Wut, Traurigkeit oder auch Freude auf. Langfristig führt die Binge-Eating-Störung natürlich zu Übergewicht und Adipositas und damit zu einem erhöhten Risiko für entsprechende Folgeerkrankungen wie Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Bei der Bulimie, der Ess-Brech-Sucht, kommt es ebenfalls zu den beschriebenen Essanfällen mit Kontrollverlust. Aus Angst vor einer Gewichtszunahme ergreifen Bulimie-Betroffene allerdings anschließend »Gegenmaßnahmen«: Typischerweise führen sie selbst Erbrechen herbei (Purging), aber auch anschließendes Hungern, übermäßiges Sporttreiben oder eine missbräuchliche Anwendung von Medikamenten wie Appetitzügler, Abführmittel oder Diuretika sind gängig. Das führt oft in einen Teufelskreis: Die strenge Diät oder das Fasten lösen Heißhunger und daraufhin erneute Essanfälle aus. Diese wiederum bestärken die Betroffenen in dem Gefühl, gegensteuern zu müssen, um nicht zuzunehmen.
Bulimie-Betroffene sind in der Regel normalgewichtig, können aber auch zu viel oder zu wenig wiegen. Sie sind meist sehr unzufrieden mit ihrer Figur und ihrem Gewicht, ihr Selbstwertgefühl ist stark von ihrem Aussehen abhängig. Sie beschäftigen sich häufig und in übertriebenem Ausmaß mit ihrem Gewicht und leiden unter der Angst, dick zu werden.
Generell gilt: Viele Betroffene mit Binge-Eating und Bulimie erleben gute und schlechte Phasen. Oft zeigen sie über Monate hinweg keine Symptome. Dann können aber wieder Phasen mit verstärkten Anfällen und krankhaftem Verhalten folgen.
Durch das häufige Erbrechen bei der Bulimie sind Schäden an Zähnen und der Speiseröhre möglich. Auch Elektrolytstörungen, Nährstoffmangel, Herzrhythmusstörungen, Kreislaufprobleme, Nierenschäden und eine verminderte Knochendichte können als Folgeschäden auftreten. Bei Mädchen und Frauen kann die Regelblutung ausbleiben.
Während die Betroffenen eine Bulimie oder Binge-Eating-Störung meist über Monate oder gar Jahre vor ihrem Umfeld verheimlichen können, ist das bei der dritten großen Form der Essstörungen, der Magersucht, langfristig kaum möglich. Denn typisch für die Anorexie oder Anorexia nervosa ist, dass die Betroffenen meist auffallend dünn sind beziehungsweise dass sie sehr stark an Gewicht verlieren. Sie selbst haben jedoch eine verzerrte Körperwahrnehmung und empfinden sich als zu dick und unförmig und schränken daher das Essen immer mehr ein. Das Körpergewicht hat einen enorm hohen Einfluss auf ihr Selbstwertgefühl.
Menschen mit einer Magersucht leiden unter der ständigen Angst, zuzunehmen. Gedanklich beschäftigen sie sich ständig mit Essen und ihrem Gewicht. Typisch ist die Furcht davor, dass das eigene Essverhalten außer Kontrolle gerät. Daher entwickeln die Betroffenen oft strikte Regeln für sich selbst: Sie essen extrem wenig und verzichten auf viele Nahrungsmittel, die als ungeeignet angesehen werden. Häufig entwickeln sie Rituale wie Kalorienzählen, langsames Essen oder Kleinschneiden der Nahrung und das Verzehren sehr kleiner Bissen. Auch Medikamentenabusus, Erbrechen und übermäßiges Sporttreiben können Teil der Erkrankung sein.
Starkes Untergewicht geht mit einem Nährstoff- und Elektrolytmangel einher und kann unter anderem zu Anämie, Bradykardie, Herz-Kreislauf-Problemen, verminderter Knochendichte und trockener Haut und Haarausfall führen. Bricht die Erkrankung früh aus, kann sich die körperliche Entwicklung verzögern, die Monatsblutung ausbleiben. Typisch ist auch eine Lanugobehaarung, die natürlicherweise nur bei Feten im Mutterleib vorhanden ist: Am ganzen Körper wächst ein feiner, heller Haarflaum.
Im schlechtesten Fall kann eine Magersucht – wie auch die anderen Essstörungen – tödlich enden. 2017 starben laut Statistischem Bundesamt 78 Menschen in Deutschland aufgrund von Essstörungen. Auch die KKH weist in ihrer Pressemeldung explizit darauf hin, dass Magersucht, Bulimie und Binge-Eating schwere psychische Erkrankungen sind, die häufig mit Angststörungen, Depressionen, selbstverletzendem Verhalten oder Suchterkrankungen einhergehen. Wichtig: Die Patienten brauchen eine adäquate medizinische und psychotherapeutische Therapie; gut gemeinte Ratschläge aus dem Umfeld helfen in aller Regel nicht weiter.
Der erste Schritt zur Therapie ist die Selbsterkenntnis, krank zu sein – eine große Hürde, denn den Betroffenen fällt es oft enorm schwer, sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen. Eltern und Freunde sollten daher ein wachsames Auge auf Veränderungen beim Essverhalten haben und möglichst früh Unterstützung anbieten (siehe Kasten). Mögliche Anlaufstellen sind neben dem Kinder- und Jugendarzt unter anderem spezielle Beratungsstellen vor Ort und telefonische sowie Online-Beratungsangebote der BZgA (Tel.: 0221 892031, www.bzga-essstoerungen.de/) und des Selbsthilfevereins ANAD® (www.anad.de).