Mehr Gemüse, fittere Zellen |
Je bunter, desto besser: Um auf 80 Prozent Gemüse pro Tag zu kommen, bedarf es ein wenig an Fantasie bei der Mahlzeitenzusammenstellung. / Foto: Getty Images/PHILIPP NEMENZ
Erkenntnisse der Molekularbiologie brachten es zutage: Die Ernährung hat einen erheblichen Einfluss auf die Art und Weise, wie wir altern. Mit einem gesunden Lebensstil ist es möglich, einen großen Teil unserer Zellphysiologie zu steuern und länger auf Kurs zu halten.
Und die beginnt nun mal mit den Jahren deutlich zu schwächeln. Mit der Zeit verlieren Stammzellen an Potenz, zelleigene Reparatur- und Erneuerungssysteme arbeiten weniger effizient und anfallende seneszente Zellen (»Zombiezellen«) sind irreversibel im Zellzyklus arretiert und behindern den Zell-Workflow. Die Dynamik der Mitochondrien, die man als Kraftwerke der Zelle bezeichnen kann, lässt bereits ab 25 Jahren nach, und das vor allem in Geweben und Organen, die sich ohnehin selten erneuern, also Nervenzellen, Herzmuskelzellen, Sinneszellen von Auge und Ohr. Sie verlieren dann pro Jahr etwa 1 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit. Und die Atmungskette eines 60-Jährigen bringt nur noch die Hälfte ihrer ursprünglichen Leistung.
Gleichzeitig fallen verstärkt nicht mehr benötigte und krankhafte Zellbestandteile an, weil Prozesse der Autophagie, also der zelleigenen Recycling-Anlage, ins Stottern geraten. So entstehen etwa durch dauerhafte Anlagerung von Glucose an Eiweiß- und Fettverbindungen die Advanced Glycation End Products (AGEs). Dadurch verlieren etwa Blutgefäße ihre Elastizität, Muskeln ihre Dehnungsfähigkeit oder die Haut wirft Falten.
Wer sich mediterran, vollwertig und vor allem überwiegend pflanzlich ernährt, geht deutlich fitter durchs Leben, als es dem jeweiligen biologischen Alter zuzuschreiben wäre. Die pflanzenbasierte Küche propagiert etwa Dr. Valter Longo, einer der renommiertesten Alternsforscher, Professor für Biogerontologie und Zellbiologie und Leiter des Longevity Institute an der University of Southern California. Demnach sollen 80 Prozent der Nahrung aus Gemüse bestehen, und zwar am besten frisch und wenig industriell verarbeitet. Laut Longo sind pro Woche 25 verschiedene Gemüsesorten und Kräuter zu konsumieren. Gemüse ist laut Ernährungswissenschaftlern und Gerontologen deshalb so wichtig für unsere Zellfitness, weil es mit einem ganzen Wirkstoff-Cocktail an sekundären Pflanzenstoffen und Ballaststoffen punktet. Tierische Lebensmittel enthalten weder das eine noch das andere.
Gräfe und Unzer; ISBN 978-3-8338-8942-4
Nina Ruge und Stephan Hentschel: »Der Verjüngungsplan« versandkostenfrei bestellen bei Govi
Wovon also wie viel essen, wenn man gesund altern will? Fernsehmoderatorin und Wissenschaftsjournalistin Nina Ruge widmet sich in ihrem neuen Buch »Der Verjüngungsplan« genau dieser Frage. Seit Jahren recherchiert sie leidenschaftlich zum Thema gesunde Langlebigkeit und setzt Longos Ernährungsempfehlungen konsequent in die Tat um. Danach sind täglich 45 bis 60 Prozent komplexe Kohlenhydrate günstig, vor allem aus Gemüse. Auch die Proteine sollten möglichst aus Pflanzen stammen, wie aus Hülsenfrüchten. 0,7 bis 0,8 g Eiweiß pro kg Körpergewicht pro Tag reichten aus; das wären dann 10 bis höchstens 20 Prozent. Zu wenige Proteine zu sich zu nehmen, sei genauso schädlich wie zu viele. Wer älter als 65 ist, braucht mehr Proteine – wie Eier, Milch oder Käse.
Der Rest, also 25 bis 30 Prozent der täglichen Energieaufnahme, sollte aus gesunden – pflanzlichen – Fetten wie Olivenöl, Leinöl, Rapsöl oder Nüssen stammen. Gesättigte Fette sind möglichst zu meiden, kurzkettige Kohlenhydrate natürlich auch. Denn die bringen über erhöhte Blutfettwerte mit den Jahren Gefahren für Herz und Hirn mit sich. Unter dem Strich stehen also täglich etwa 80 Prozent Gemüse am Tag. Auf dem Teller entspricht das je nach Gemüsesorte etwa 500 bis 600 g am Tag.
Wesentlich für den Gesundheitsbonus, der von Gemüse ausgeht, sind neben den Ballaststoffen die enthaltenen sekundären Pflanzenstoffe. Von den rund 100 000 bekannten Substanzen kommen etwa 8000 bis 10 000 in Gemüse, Obst, Pilzen, Samen und Nüssen vor. Die allermeisten gehören zur Stoffklasse der Polyphenole, darunter so bekannte Vertreter wie die Catechine, Anthocyane oder Resveratrol des Rotweins.
Sie kommen in der Pflanze in Gemischen von mehreren Hundert vor und bilden sogenannte Phytokomplexe – Gemüse bringt deutlich mehr mit als Obst. Und: Je diverser die Mischung, desto vielfältiger ist der zu erwartende Effekt. So erklären sich die 25 verschiedenen Gemüsesorten, die Longo pro Woche empfiehlt. Schätzungen zeigen, dass Mischköstler etwa 1,5 g Polyphenole täglich zu sich nehmen, Vegetarier deutlich mehr. Zufuhrempfehlungen für sekundäre Pflanzenstoffe gibt es bislang keine.
Anders als ihre Bezeichnung vermuten mag, sind die bevorzugt in den Randschichten oder der Schale anzutreffenden Substanzen keinesfalls Inhaltsstoffe zweiter Klasse, sondern maßgeblich an der gesundheitsfördernden Wirkung beteiligt. Freilich wirken einige sekundäre Pflanzenstoffe direkt als Antioxidanzien, doch die meisten Polyphenole werden erst nach dem mikrobiellen Umbau durch die Dickdarmbakterien bioaktiv. Die dabei entstehenden Metabolite wirken zum Beispiel entzündungshemmend, andere fördern Autophagieprozesse, also die Zellreinigung und das Müllrecycling, wieder andere fahren die Leistung der Mitochondrien nach oben oder helfen bei der Beseitigung geschädigter Zellen im Apoptose-Prozess.
Molekularbiologen konnten in den vergangenen Jahren aufdecken, dass Polyphenole sogenannte Sirtuine zu stimulieren vermögen. Diese Enzyme übernehmen in der Stoffwechselsteuerung eine tragende Rolle. So erhöhen sie die DNA-Reparaturleistung im Zellkern, indem sie an der DNA bestimmte Eiweißstrukturen stilllegen. Das verschafft den Reparaturenzymen Zeit, Schäden am Erbmaterial zu beheben. »Wenn das an Stammzellen geschieht, dürfte das für die Gesunderhaltung förderlich sein«, schreibt Nina Ruge in ihrem Buch. Der zweite wesentliche Sirtuin-Effekt ist die Aktivierung der Mitochondrien. Sie fahren die Aktivität der Zellkraftwerke hoch und können so zur Teilung anregen – was dem Kräftehaushalt zugutekommt. Die sogenannte Sirtuin-Diät mit Sirtfood – bekannt geworden durch den Abnehmerfolg der britischen Sängerin Adele – nutzt diese Effekte.
Neuere Studien belegen den Gemüse-Effekt: Je mehr davon verzehrt wurde, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, geistig abzubauen. Ein zweites Beispiel: Je mehr Polyphenole ältere Menschen verzehrt hatten, desto breiter war ihr Darm besiedelt. Das reduzierte ihr Risiko, ein Leaky-gut-Syndrom, also einen löchrigen Darm, zu entwickeln, bei dem giftige Substanzen ins Blut passieren und mit chronischen Alterungsprozessen assoziiert sind. Und: Eine groß angelegte US-Studie aus dem vergangenen Jahr analysierte eine geringere Todesrate durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wenn ältere Menschen länger als drei Jahre verschiedene Kakaoextrakte (ohne Zucker) zu sich genommen hatten. Raucher profitierten besonders.
Pflanzen produzieren sekundäre Pflanzenstoffe vor allem dann, wenn sie unter leichtem Stress stehen: also etwa bei hohen oder niedrigen Temperaturen, bei Wasser- oder Nährstoffmangel, durch Fraßfeinde, Bakterien- oder Pilzbefall. Besonders viel von diesen Stoffen sitzen deshalb in Schale, Kernen und in den Randschichten von Wurzeln und Knollen. Es handelt sich also besonders um Schutzstoffe, die immer dann in großen Mengen produziert werden, wenn es für die Pflanze ungemütlich wird. Deshalb enthält Gemüse aus biologischem Anbau meist deutlich mehr Polyphenole als Gewächshauserzeugnisse unter Pestizideinsatz.
Ob ein Gemüse einen hohen Polyphenolgehalt hat oder nicht, lässt sich in vielen Fällen riechen, schmecken und sehen. Viele Polyphenole schmecken scharf, bitter oder pikant. Rucola oder Chicorée, die bitter schmecken, enthalten viele Polyphenole. Auch die Farbe gibt einen guten Hinweis: Roter Chicorée, roter Blattsalat oder Rotkohl sind reich an Polyphenolen. Rote Zwiebeln sind besser als weiße, tiefrote Äpfel besser als blasse. Bei Obst zeigt eine dunkle Färbung den hohen Gehalt an. Dort sind es Holunder, schwarze Johannisbeere und Heidelbeere, die viele Polyphenole in sich tragen.
Im »Verjüngungsplan« hat Dr. Gunter Eckert, Lebensmittelchemiker und Professor für Ernährung in Prävention und Therapie an der Universität Gießen, eine »Hitliste der gehaltvollsten pflanzlichen Lebensmittel« erstellt. Dabei hat er sich zwar an einer bestehenden Datenbank, dem »Phenol Explorer EU« bedient. Doch nicht nur der Polyphenolgehalt ging in Eckerts Pflanzen-Ranking ein – sondern auch der Gehalt an Vitaminen, Mineralstoffen, Omega-3-Fettsäuren, Senfölglykosiden, Aminosäuren, Ballaststoffen und pflanzlichen Fetten (siehe Kasten).
Die Top 3 – Gemüse
Die Top 3 – Hülsenfrüchte
Die Top 3 – Obst
Quelle: Professor Dr. Eckert, Universität Gießen, Angaben pro 100 g verzehrte Lebensmittel
Nicht nur was man isst, sondern auch wann, ist für die Zellfitness entscheidend. In der Kalorienrestriktion und dem intermittierenden Fasten sieht Ruge eine gute Möglichkeit, die Zellfunktionen länger zu erhalten. »Fasten erzielt quasi eine Schubumkehr unseres Zellstoffwechsels. Ich bin ein großer Fan von einer dauerhaften Umstellung, also Intervallfasten mit reduzierter Kalorienanzahl.« Bei längerer Nahrungskarenz geht der Körper in den sogenannten Hungerstoffwechsel über. Um Energie zu gewinnen, mobilisiert er statt Glucose überflüssige Fettreserven und fehlgefaltete Proteine. Dabei werden Ketonkörper als Ersatzbrennstoff freigesetzt, Blutzucker- und Insulinspiegel bleiben niedrig. Eine Fastenphase von ungefähr 16 Stunden ist für diese Wirkung notwendig.
Fasten scheint so effektiv zu sein, weil wesentliche an der Modulation des Alterns beteiligte Proteine beeinflusst werden: »In dem Moment, in dem der Körper durch Nahrungsentzug in einen gewissen Stress kommt, wird der mTOR-Proteinschalter deaktiviert. Damit werden anabolische Prozesse gestoppt. Doch da die Zelle Nahrung braucht – Mitochondrien laufen weiter und ATP muss gebildet werden –, geht die Zelle in die Autophagie. Sie schiebt also die Müllverwertung, das Recycling massiv an«, erklärt Ruge im Interview mit der Pharmazeutischen Zeitung. Ein weiterer positiver Aspekt: »Die Sirtuine, die die Häufigkeit der Zellteilung und die Reparaturfähigkeit der DNA steuern, werden durch das Intervallfasten aktiviert. Dadurch, dass sich die Zellen durch weniger Nahrung langsamer teilen, haben mehr Reparaturenzyme mehr Zeit, die DNA zu reparieren. Eine durch Intervallfasten ›gesündere DNA‹ ist ein entscheidender Vorteil – wenn man bedenkt, dass 10 000 Schäden pro Zelle pro Tag vorliegen.«
Schon vor vielen Jahren haben Wissenschaftler in Laborversuchen herausgefunden, dass Tiere gesünder sind, wenn man ihnen nicht fortlaufend Essen anbietet, sondern sie Pausen machen. Sie litten seltener unter chronischen Erkrankungen und lebten um 20 bis 30 Prozent länger. Zwar kann man diese Ergebnisse nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen. Aber auch in Humanstudien zeigte sich in den vergangenen Jahren, dass Intervallfastende neben dem Gewichtsverlust weitere gesundheitliche Vorteile haben: eine gestärkte Immunabwehr, weniger entzündliche Prozesse, bessere Blutdruckwerte, einen verbesserten Zucker- und Fettstoffwechsel sowie weniger Demenzfälle.