Migränebehandlung auf dem neuesten Stand |
PTA und Apotheker können Migränepatienten individuell beraten, wenn ihnen das Wichtigste aus der neuen Migräne-Leitlinie bekannt ist. / Foto: Shutterstock/Dan Race
Migräne gehört zu den häufigsten Kopfschmerzerkrankungen in Deutschland. Laut Robert-Koch-Institut leiden zwischen 15 und 24 Prozent der Frauen sowie 4 bis 11 Prozent der Männer darunter. Dennoch werde die Migräne oft falsch diagnostiziert und unzureichend behandelt, sagte Dr. Tim Jürgens, Neurologe am Klinikum Güstrow, auf einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG). Um die Versorgung der Patienten zu verbessern, wurde die Leitlinie seit 2018 umfassend überarbeitet und um aktuelle Therapiemöglichkeiten ergänzt.
»Die Mehrheit der Betroffenen wird mit den Standardmedikamenten gut behandelt«, sagte Dr. Charly Gaul, Facharzt für Neurologie am Kopfschmerzzentrum Frankfurt am Main. Gemeint sind damit die klassischen Schmerzmittel und die Triptane. Für Menschen mit einem Herz-Kreislauf-Risiko, bei denen Triptane kontraindiziert sind, oder bei Unverträglichkeiten gegen diese Wirkstoffe empfehlen die Leitlinienautoren die neue Substanz Lasmiditan (Rayvow®) aus der Klasse der Ditane. Dieser Wirkstoff aktiviert spezifisch nur einen einzigen Serotonin-Rezeptor (5-HT1F) und unterbindet wie ein Triptan die Freisetzung von Calcitonin-Gene-Related-Peptide (CGRP), ein Neurotransmitter, der im Migräneanfall eine wesentliche Rolle spielt. Dies führt im Gegensatz zu den Triptanen jedoch nicht zu einer Verengung von Gefäßen.
Lasmiditan ist in der Dosierung 50, 100 und 200 mg zur Behandlung von akuten Migräneattacken in der EU zugelassen, in Deutschland bis dato aber noch nicht erhältlich. Da die Substanz zentrale Nebenwirkungen wie Schwindel und Müdigkeit hervorrufen kann, dürfen Patienten bis zu acht Stunden nach der Einnahme nicht Auto fahren oder eine Maschine bedienen.
Die zweite neue Substanz, die die Leitlinienautoren bei Kontraindikation oder Unverträglichkeit gegen Analgetika oder Triptane empfehlen, ist Rimegepant. Der erste Vertreter der neuen Substanzklasse der Gepante ist als Schmelztablette mit 75 mg unter dem Handelsnamen Vydura® EU-weit zugelassen, aber ebenfalls noch nicht erhältlich. Die Markteinführung in Deutschland wird in diesem Jahr erwartet.
Rimegepant blockiert die Andockstelle für CGRP an seinem Rezeptor und verhindert dadurch die Effekte des Neurotransmitters. Damit ähnelt der Wirkmechanismus von Rimegepant dem der CGRP-Antikörper Galcanezumab (Emgality®) und Fremanezumab (Ajovy®), es ist aber im Gegensatz zu ihnen oral anwendbar. Eine weitere Besonderheit dieser Substanz: Sie kann sowohl als Akutmedikation eingesetzt werden als auch in der Prophylaxe der episodischen Migräne. Patienten, die unter mehr als vier Attacken pro Monat leiden, können jeden zweiten Tag eine Tablette einnehmen. Die empfohlene Dosis zur Akuttherapie beträgt einmal täglich 75 mg. Rimegepant eignet sich für Patienten, bei denen die klassischen Prophylaktika wie Betablocker, Flunarizin, Amitriptylin oder Topiramat nicht wirksam sind, nicht vertragen wurden oder wenn es Kontraindikationen gibt. Rimegepant ist gut verträglich, es besteht allerdings ein Interaktionspotential über CYP 3A4 und p-Glykoprotein.
Wer häufig unter Migräneattacken leide, stark eingeschränkt sei oder Gefahr laufe, zu häufig Akutmedikamente anzuwenden, benötige eine individuell angepasste Prophylaxe, erläuterte Dr. Gudrun Goßrau, Neurologin in der Kopfschmerzambulanz der Uniklinik Dresden, bei der virtuellen Pressekonferenz. Die bisherige Praxis, eine Prophylaxe nach sechs bis neun Monaten zu überprüfen und maximal zwölf Monate durchzuführen, soll laut der aktualisierten Leitlinie nicht mehr so streng befolgt werden wie bisher. Stattdessen empfehlen die Autoren, eine vorbeugende Therapie immer von der Schwere und Dauer der Erkrankung abhängig zu machen. Zudem sollen persönliche Faktoren wie die Lebensphase, soziale Gegebenheiten und psychische Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Angsterkrankungen in die Evaluation zur Prophylaxedauer mit einbezogen werden.
Dies bedeute beispielsweise, dass jemand, der unter hochfrequenter Migräne (mehr als acht Anfälle pro Monat) und gleichzeitig unter einer Depression leide, eine medikamentöse Prophylaxe über mindestens 12 und bis zu 24 Monate erhalte, so Goßrau. Eine Reduktion der Anfallshäufigkeit von 30 bis 50 Prozent sei dann anzustreben. Patienten, die weniger als acht Attacken pro Monat erleben und bei denen keine relevante Komorbidität vorliegt, könnte eine Prophylaxe über sechs bis zwölf Monate ausreichen und eine Halbierung der Anfälle sollte ein anzustrebendes Ergebnis sein. »Die Therapie wird individueller auf den Patienten zugeschnitten«, fasste Jürgens, der auch Präsident der DMKG ist, zusammen.
Neben den unspezifischen Medikamenten zur Migräneprophylaxe stehen bereits drei CGRP (-Rezeptor)- Antikörper zur Prophylaxe zur Verfügung: Galcanezumab, Fremanezumab und Erenumab (Aimovig®). Seit 2022 ist ein vierter Antikörper, Eptinezumab (Vyepti®), auf dem Markt erhältlich. Er wird nicht subkutan wie die anderen drei verabreicht, sondern intravenös. Die therapeutischen Wirkstoffspiegel werden daher schnell erreicht. Es ist möglich, bei fehlendem Ansprechen auf einen Antikörper zu einem anderen zu wechseln.
Die Leitlinienautoren betonen ausdrücklich den Stellenwert von nicht medikamentösen Behandlungen als zweite Säule jeder Migränetherapie. Sehr wichtig sei die Aufklärung über die Erkrankung, sagte Dr. Stefanie Förderreuther, Neurologin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Migräne kann mit Ausdauersport, Muskelrelaxation nach Jacobson und Achtsamkeit positiv beeinflusst werden. Relativ neu ist die Stimulation des überreizten Trigeminusnervs mittels Klebeelektroden (Cefaly®), die im Stirnbereich aufgeklebt werden. Dadurch soll dieser beruhigt werden. Laut Leitlinie wirkt die Behandlung bei akuten Migräneattacken, bei täglicher Anwendung über 20 Minuten kann sie zudem zur Prophylaxe eingesetzt werden. Bislang wird das Verfahren nicht von den Krankenkassen erstattet, es ist aber eine Möglichkeit, einem Übergebrauch von Medikamenten entgegenzuwirken.
Digitale Angebote wie Migräne-Apps bieten Unterstützung bei Diagnostik und Therapie der Migräne. Sie funktionieren meist wie ein Kopfschmerztagebuch, ermöglichen also eine Verlaufsdokumentation und Erfolgskontrolle für die Patienten. Oft stellen die Apps zusätzliche Informationen zur Erkrankung und verhaltenstherapeutische Optionen zur Verfügung. Von Vorteil ist, dass sie jederzeit und überall genutzt werden können. Die Mindestkriterien zur Auswahl dieser Apps, insbesondere bezüglich des Datenschutzes, sollten aber immer erfüllt sein, betonte Förderreuther.
Da der Leidensdruck für Migränepatienten oft hoch ist, probieren einige auch interventionelle Verfahren aus. Für diese gibt es allerdings keine Evidenz, und so rät Förderreuther von der chirurgischen Durchtrennung des Musculus currugator (ein Hautmuskel im Bereich der Augenbraue) und dem Verschluss des Foramen ovale, eines kleinen Lochs zwischen den beiden Herzvorhöfen, ab. Zudem sei die Behandlung der Migräne mit Homöopathie, Nahrungsergänzungsmitteln, Probiotika oder speziellen Diäten zur Elimination von Allergenen nicht wirksam.