Mit Kälte und Kompression gegen Polyneuropathie |
Juliane Brüggen |
30.05.2025 10:30 Uhr |
Die Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie kann sich unter anderem von Fingern und Zehen her ausbreiten. / © Adobe Stock/ZayNyi
Bestimmte Krebsmedikamente können eine Polyneuropathie als Nebenwirkung auslösen, besonders an Händen und Füßen. Man spricht von Chemotherapie-induzierter peripherer Neuropathie (CIPN). Zu den Wirkstoffklassen und Wirkstoffen, die die Nerven schädigen können, gehören Taxane, Platinderivate, Vinca-Alkaloide sowie Eribulin, Bortezomib und Thalidomid. Das Risiko steigt mit der Einzeldosis und/oder der kumulativen Dosis. Auch individuelle Risikofaktoren wie Diabetes mellitus, toxische Stoffe wie Alkohol, Hypothyerose oder Vitaminmangel (zum Beispiel B1, B6, B12, E) spielen eine Rolle.
Neuropathien sind sehr belastend: Sie äußern sich etwa durch Missempfindungen, Taubheitsgefühl, motorische Schwächen und Schmerzen. Generell unterscheidet man Minus-Symptome, die mit einem Funktionsverlust einhergehen, und Plus-Symptome, die durch eine nach der Nervenschädigung auftretende Übererregbarkeit gekennzeichnet sind. Auch wenn die Therapie beendet ist, können die Beschwerden noch über einige Zeit anhalten.
Die aktualisierte S3-Leitlinie »Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen« nennt nun neben dem Funktionstraining auch die Kryo- und Kompressionstherapie als mögliche vorbeugende Maßnahmen (Kann-Empfehlung) – allerdings beschränkt auf Patientinnen und Patienten unter Therapie mit Taxanen. Die zu dieser Gruppe gehörenden Arzneistoffe Paclitaxel und Docetaxel werden bei bestimmten Formen von Brustkrebs und nicht-kleinzelligem Lungenkrebs eingesetzt; Paclitaxel außerdem bei Eierstockkrebs, Adenokarzinom des Pankreas und dem Aids-assoziierten Kaposi-Sarkom, Docetaxel zudem bei Prostatakrebs, Magenkarzinom sowie Plattenephithelkarzinomen im Kopf-Hals-Bereich.
Minus-Symptome | Plus-Symptome | |
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Sensibles Nervensystem | Empfindung für Berührung, Schmerz, Temperatur und/oder Vibration eingeschränkt (Hypästhesie, Hypalgesie, Thermhypästhesie, Pallhypästhesie), Lagesinn beeinträchtigt (Tiefensensibilität) | Missempfindungen wie Ameisenlaufen, Kribbeln, Stromgefühl (Parästhesie), schmerzhaftes Brennen (Dysästhesie), übersteigerte Schmerzwahrnehmung (Hyperalgesie), schmerzhafte Wahrnehmung von normalerweise nicht schmerzhaften Reizen (Allodynie), häufig auch brennende, stechende oder elektrisierende Spontanschmerzen |
Motorisches Nervensystem | Paresen, Atrophien, Reflexverlust | Häufig Krämpfe |
Kälte- und Kompressionstherapie konnten in einigen Studien die Häufigkeit und den Schweregrad der Neuropathien reduzieren, dabei liegen vor allem Daten zu Brustkrebspatientinnen unter Taxan-Therapie vor. Die Studienergebnisse seien untereinander nicht vergleichbar, betonen die Leitlinienautoren, da die Verfahren nicht standardisiert wurden. Auch aufgrund der geringen Fallzahlen bedürfe es weiterer multizentrischer randomisierter Studien. Ein Analogieschluss bezüglich anderer Chemotherapien sei nicht »ohne weiteres« möglich, unter anderem, weil Chemotherapeutika auf unterschiedliche Weise neurotoxisch wirkten und periphere Maßnahmen nicht immer geeignet seien.
Beide Methoden verfolgen das Prinzip, die Blutgefäße in Händen und Füßen zu verengen, sodass das Chemotherapeutikum dort möglichst nicht aufgenommen wird. Bei einer Kryotherapie ziehen die Patienten Kühlhandschuhe und Kühlsocken an, die laut Leitlinie aufwendig vorbereitet und zudem während der Behandlung gewechselt werden müssen, um die niedrige Temperatur aufrecht zu erhalten. Üblicherweise werden die Handschuhe und Socken sowohl während der Chemotherapie getragen als auch 15 bis 30 Minuten davor und danach. Mögliche Nebenwirkungen sind Hautrötungen und -irritationen sowie Taubheitsgefühle und Kribbeln. Nicht alle Patienten hielten die Kälteanwendung aus.
Im Gegensatz zur Kältetherapie ist die Kompressionstherapie einfacher umsetzbar: Patienten tragen enganliegende chirurgische Handschuhe, die eine Nummer zu klein sind, sowie Kompressionstrümpfe. Bisher waren die Methoden in Studien gleichwertig, was die Verminderung der neuropathischen Beschwerden betraf.
Wie sieht es mit Empfehlungen in anderen Leitlinien aus? Diese hat der Krebsinformationsdienst zusammengetragen. Demnach erwähnt die deutsche S3-Leitlinie »Harnblasenkarzinom« (2025) die Handkühlung oder komprimierende Handschuhe als mögliche Option (»kann erwogen werden«), wenn Patienten eine potenziell neurotoxische Chemotherapie erhalten.
Die Kommission Mamma der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie (AGO, 2025) sieht einen begrenzten prophylaktischen Nutzen der beiden Verfahren und nennt sie ebenso wie das Funktionstraining als Kann-Empfehlung.
Die US-amerikanische ASCO-Leitlinie (2020) spricht den beiden Verfahren zur CIPN-Prophylaxe keine Empfehlung aus. Die europäischen Fachgesellschaften (ESMO, EONS, EANO) nennen sie in ihrer Leitlinie zu Chemotherapie-induzierter Neurotoxizität (2020) mit eingeschränktem Empfehlungsgrad (»can be considered«, Empfehlungsgrad II C für Kryotherapie beziehungsweise III C für Kompressionshandschuhe).
Quelle: S3-Leitlinie zur Supportivtherapie, 2025