Musik als Medizin |
Gemeinsames Musizieren schafft Verbundenheit. Diese wiederum kann man sich bei der Genesung verschiedener Leiden zunutze machen. / © Adobe Stock/lightpoet
Gemeinsames Musizieren kann biologisch tiefgreifender verbinden als eine Umarmung, ließ kürzlich die Technische Universität Dresden verlauten. Bei einem Konzert im dortigen Zentrum für Regenerative Therapien waren die Werte des Bindungshormons Oxytocin bei Besuchern vor und nach dem Musikhören gemessen worden – nach dem Musikerlebnis waren sie erheblich höher. Viele Besucher berichteten von einem starken Gefühl der Verbundenheit mit den Musizierenden sowie mit anderen Zuhörenden.
Dass Musik Gemeinschaft stiftet und positive Energien weckt, ist nicht neu. Dass dies messbar zur Genesung von Erkrankten beiträgt, müsse sich aber erst noch als Fakt etablieren, erklärt Professor Dr. Lutz Neugebauer, Vorsitzender der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft (DMtG), im Gespräch mit PTA-Forum. Der Musiktherapeut und Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche arbeitet seit Jahren erfolgreich mit der heilsamen Wirkung von Musik.
»Ähnlich wie bei der Psychotherapie geht es dabei vor allem um die Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Genauso wie längst nicht jedes Gespräch therapeutisch ist, ist es auch nicht jede Art, gemeinsam Musik zu machen oder intensiv zu hören.« Vielmehr gehe es darum, musikalische Elemente wie Rhythmik oder die Modulation von Tönen bewusst einzusetzen, um Spannungen abzubauen, Kommunikation zu ermöglichen oder zu verbessern.
Anders als beim Dialog mit Worten, bei dem die Gesprächspartner in der Regel abwechselnd sprechen und zuhören, sei die Kommunikation über Musik oft synchron, erläutert Neugebauer. Diese Art der synchronen Kommunikation ähnele der menschlichen Kommunikation zu Beginn des Spracherwerbs. »Wenn Babys vor sich hin brabbeln, lautieren oder weinen, stimmen ihre Eltern meist direkt ein – tröstend, ermunternd oder auch imitierend.« Dieser Prozess habe etwas musikalisch Verbindendes, das auch beim Spracherwerb nach einem Schlaganfall oder bei fortgeschrittener Demenz erfolgreich eingesetzt werde.
Nach einem Schlaganfall etwa könnten viele Patienten zunächst keine Worte mehr bilden und aussprechen, »die abstrakte Sprache nicht mehr mobilisieren«, so drückt Neugebauer es aus. Die synchrone Kommunikation über Musik könne ihnen dann einen neuen, intuitiven (Wieder-)Zugang zur Sprache eröffnen. So erinnert sich Neugebauer an einen Patienten mit Demenz, der sofort zu summen begann, als der Musiktherapeut einige Tasten auf dem Klavier anschlug. »Als ich seine Melodie aufgriff, begann er auch zu singen und sich zu entspannen, er genoss die musikalische Kommunikation.«
Auch Menschen, die nach einem Schlaganfall zunächst nicht mehr sprechen können, finden häufig über die Musik, über Laute und Rhythmen wieder einen Zugang zur Sprache – ähnlich wie in der frühen Kindheit. Diese emotionale und kommunikative Kraft der Musik nutzen auch die Mitwirkenden in Chören für Aphasiker, also für Menschen mit einer krankheitsbedingten Sprachstörung. Sprechen fällt den Betroffenen häufig schwer, Singen – das von einem anderen Hirnareal gesteuert wird – ist meist leichter.
Ein weiteres Feld, in dem Musiktherapie mit Erfolg eingesetzt wird, sind Autismus-Spektrum-Störungen. Während Blick- und Körperkontakt zu Betroffenen oft nur schwer möglich ist, lässt sich eine musikalische Beziehung im therapeutischen Umfeld wesentlich leichter herstellen, beispielsweise über gemeinsames Trommeln. »Wenn ein Kind solch eine Kommunikationserfahrung macht, überträgt es das in der Folge meist auch auf andere Bereiche«, berichtet Neugebauer.
Kinder, eine besonders vulnerable Gruppe, profitieren ebenfalls erfolgreich von musiktherapeutischen Anwendungen. »Bei Frühgeborenen stärkt Musiktherapie erwiesenermaßen die Bindung zwischen Eltern und Kind, einem der wesentlichen Indikatoren für eine bessere Entwicklung nach einem schwierigen Start ins Leben«, berichtet Neugebauer. Bei Kindern mit Entwicklungsverzögerungen unterstützt Musiktherapie die Sprachentwicklung.
»Wirksam ist die Musiktherapie insbesondere auch für Jugendliche und junge Erwachsene, die traumatische Erfahrungen durch familiäre Gewalt, Flucht oder Krieg gemacht haben«, ergänzt der DMtG-Vorsitzende. »Hier findet die Musiktherapie Zugänge jenseits der Muttersprache und überwindet Sprachbarrieren.« Musiktherapie sei generell das Mittel der Wahl in allen Fällen, in denen Sprache an ihre Grenzen stößt – etwa auch bei Menschen mit Einschränkungen.
Die Deutsche Krebshilfe betont die positiven Wirkungen von Musik in der Behandlung einer Krebserkrankung vor allem hinsichtlich des Fatigue-Syndroms, der besseren Verträglichkeit der onkologischen Therapie sowie der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Das belegt auch eine kürzlich von der Amerikanischen Gesellschaft für klinische Onkologie veröffentlichte Studie: Musiktherapie ist demnach genauso wirksam wie die traditionelle kognitive Verhaltenstherapie, wenn es darum geht, Angststörungen bei Krebspatienten zu behandeln, sowohl kurz- als auch langfristig. Sie nutzt die emotionale und kommunikative Kraft der Musik, um Gesundheit wiederherzustellen, zu erhalten und Menschen in schwierigen Lebenssituationen zu unterstützen. Auch die S3-Leitlinie zur Behandlung von Demenzen empfiehlt Musiktherapie zur Therapie von psychischen Begleiterscheinungen wie Angst, Unruhe und Apathie.
In den psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen in Deutschland gehört die Musiktherapie heute zu den am häufigsten angewandten Verfahren neben den anerkannten Verfahren der Psychotherapie. Dennoch wird Musiktherapie in Deutschland im ambulanten Bereich derzeit nur in Ausnahmefällen von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt.
Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das sich häufig unbeliebt macht, indem es medizinische Leistungen streng auf ihren evidenzbasierten Nutzen prüft, ist dagegen schon 2019 zu dem Ergebnis gekommen, dass Musiktherapie bei Krebsüberlebenden unmittelbar nach Therapieende Angst, Abgeschlagenheit, Stimmungsschwankungen, Stress und Anspannung verringern und die Lebensqualität verbessern kann.
Ebenso empfiehlt das IQWiG, das Berufsbild und die Ausbildung der Musiktherapeuten gesetzlich zu regeln, um eine einheitliche Qualität der Behandlung sicherzustellen. Das fordert auch die DMtG. Musiktherapeuten sind in kurativen, rehabilitativen, präventiven und palliativen Bereichen sowie in der Nachsorge tätig. Qualifiziert ausgebildet, können sie auch eigenverantwortlich Musiktherapie durchführen und Patienten aller Lebensalter mit somatischen, psychischen, psychosomatischen sowie psychiatrischen Erkrankungen behandeln. Da der Titel »Musiktherapeut/in« allerdings nicht gesetzlich geschützt ist, empfiehlt Neugebauer, auf das Zertifikat der DMtG oder eines anderen Fachverbandes der Bundesarbeitsgemeinschaft Künstlerische Therapien zu achten. Hier nehmen die Verbände eine eigene Qualitätssicherung vor.