Mythos Männerschnupfen? |
Männer leiden bei Erkältung oft mehr als Frauen. Ob seelisch oder körperlich begründet – für beides gibt es Argumente. / Foto: Getty Images/Lacheev
»Männergrippe« – der Begriff ist so allgegenwärtig, dass er in die Wörterbücher von Oxford und Cambridge aufgenommen wurde. Dort ist »man flu« als eine Erkältung oder eine ähnliche leichte Krankheit definiert, die sich jemand, meist ein Mann, einfängt und sie empfindet, als handelte es sich um eine schwerwiegendere Erkrankung. Der leicht abwertende Begriff suggeriert, dass vor allem Männer bei einer simplen Erkältung stark und mehr als die meisten Frauen leiden. Sind sie bloß wehleidiger als Frauen oder erkranken Männer schwerer und sind medizinisch unterversorgt? Die Wissenschaft ist sich hier bis heute uneins.
Es ist zwar bekannt, dass sich Krankheiten bei den Geschlechtern unterschiedlich äußern können, weshalb sich die Gendermedizin etabliert hat. Ein Beispiel sind die Schmerzen bei einem Herzinfarkt oder einer Angina pectoris. Männer leiden eher unter klassischen Symptomen wie drückenden Brustschmerzen, während bei Frauen eher atypische Symptome wie Übelkeit oder Atemnot auftreten. Bei einem grippalen Infekt oder Schnupfen hält sich jedoch der Mythos, dass Männer die Schwere ihrer Symptome übertreiben und gerne umsorgt werden wollen.
Möglicherweise ist ihr Verhalten aber auch angemessen (und nicht übertrieben) und sie erfahren häufiger einen schwereren Krankheitsverlauf als Frauen. Hinweise dafür gibt es aus epidemiologischen Studien, denen zufolge bei Influenzaepidemien beim männlichen Geschlecht das Hospitalisations- und Mortalitätsrisiko höher liegt als beim weiblichen. Eine Reihe von Ursachen ist dafür denkbar. Männer könnten sich bei ersten Krankheitsanzeichen weniger schonen und dadurch den Verlauf verschlimmern. Männer leben oft ungesünder als Frauen, waschen sich seltener die Hände und betreiben weniger Gesundheitsvorsorge. Das könnte ihre Anfälligkeit erhöhen.
Genetisch ist das stärkere Geschlecht außerdem benachteiligt. Männer haben nur ein X-Chromosom. Auf diesem Chromosom liegen jedoch viele Gene, die das Immunsystem regulieren. Frauen mit ihren zwei X-Chromosomen könnten durch dieses Doppel ein stärkeres Immunsystem haben. Das erweist sich allerdings als Nachteil, wenn es um Autoimmunkrankheiten geht. Frauen erkranken häufiger als Männer an rheumatischen Erkrankungen, Allergien oder Multipler Sklerose. Auch die Hormone beeinflussen geschlechtsspezifische Unterschiede bei Infektionskrankheiten.
In Tierversuchen haben Forscher stärkere Immunreaktionen bei weiblichen Mäusen als bei männlichen beobachtet. Das führte zu der Hypothese, dass geschlechtsabhängige Hormone die Immunabwehr beeinflussen. Unter Einwirkung des weiblichen Sexualhormons Estrogen konnten sich in Versuchen die spezifischen Immunzellen stärker vermehren. Testosteron hingegen fuhr die Immunreaktion eher herunter. Das männliche Geschlechtshormon führt vermutlich dazu, dass Infektionen weniger entzündlich verlaufen und die Krankheitsabwehr länger dauert. Symptome können sich stärker ausbilden und persistieren.
Die Hypothese konnte auch in Untersuchungen am Menschen bestätigt werden. Ein Forscherteam aus Australien wollte 2010 wissen, ob und wie sich die Immunreaktion auf Rhinoviren je nach Geschlecht und Alter verändert. Für die Studie schlossen sie 63 gesunde Personen ein. Bei Frauen fanden sie vor der Menopause eine stärkere adaptive Immunantwort als bei Männern und älteren Menschen beider Geschlechter. Das legt nahe, dass weibliche Hormone, die vor allem vor der Menopause ausgeschüttet werden, Frauen befähigen, Infektionen schneller zu bekämpfen. Dieser Schutz geht jedoch nach der Menopause, wenn Frauen auch nicht mehr gebärfähig sind, verloren.
Ins Bild passt, dass die Influenzaimpfung bei Frauen tendenziell mehr lokale und systemische Reaktionen auslöst als bei Männern und sie eine stärkere Antikörperreaktion ausbilden. Weiterhin wurde beobachtet, dass je höher die Testosteron-Werte sind, desto geringer die Antikörperreaktion beim männlichen Geschlecht ausfällt. Männer könnten daher ein höheres Risiko für schwerwiegendere Symptome trotz Impfung haben als Frauen.
Estrogen scheint die Immunabwehr also eher zu fördern, während Testosteron sie hemmt. Allerdings ist unklar, ob dieser vor allem in In-vitro-Studien nachgewiesene Effekt klinisch relevant ist oder allenfalls zu marginalen Unterschieden führt. Forscher aus Innsbruck prüften 2022 in ihrer Studie »Man flu is not a thing«, ob es tatsächliche Unterschiede in der Krankheitsschwere bei Männern und Frauen bei einer Erkältung gibt. Das Team führte Datenanalysen aus dem Placeboarm einer prospektiven, interventionellen klinischen Phase-IV-Studie durch, um die Symptomschwere einer akuten Rhinosinusitis bei den Teilnehmern beider Geschlechter zu bestimmen. Sie prüften dabei auch, wie sehr die Personen angaben, unter den Krankheitsanzeichen zu leiden. Im patientenberichteten Symptomscore zeigten Frauen zu Studienbeginn eine signifikant höhere Symptombelastung, aber auch eine deutlich schnellere subjektive Besserung als Männer. Das bezog sich jedoch nur auf die emotionalen Aspekte der Erkrankung. Es wurde kein Geschlechtereffekt für nasale oder otologische Symptome oder Schlafstörungen festgestellt.
Um die Existenz des Männerschnupfens zu belegen, wird oft auf eine Studie aus 2009 verwiesen. Wissenschaftler untersuchten damals allerdings nur in einem Tiermodell Geschlechterunterschiede in der angeborenen Immunität gegen eine Infektion mit Listeria monocytogenes. Dabei ging es um die Wirkung der Geschlechtshormone auf Caspase 12. Caspasen sind Proteasen, die an Apoptose und Entzündungskaskaden beteiligt sind. Die Aktivität der Caspase-12 wird durch Estrogen gehemmt. Dadurch verstärkt sich die Entzündungsreaktion auf bakterielle Krankheitserreger. Diese Estrogen-vermittelte Hemmung kann Frauen besser vor Infektionen schützen als Männer. Zu beachten ist, dass es hier um eine bakterielle Infektion und keine viral bedingte Erkältung oder Grippe ging und der Versuch lediglich am Tiermodell erfolgte.
Es stellt sich die Frage, warum es überhaupt so eingerichtet sein soll, dass Männer und Frauen unterschiedlich auf Infektionserreger reagieren. Je höher der Testosteron-Spiegel ist, desto »männlicher« ein Mann also ist, desto schlechter scheint er mit Krankheitserregern fertig zu werden. Evolutionär gesehen könnte das allerdings ein Schutzmechanismus sein, um einen sehr aktiven und stets kampfbereiten Mann bei einem Infekt zu einer wirklichen Pause zu zwingen. Eine andere Erklärung sieht im Männerschnupfen hauptsächlich ein soziokulturelles Phänomen. Männer wollen Zuwendung und Mitleid bekommen, sich verwöhnen lassen und dadurch etwas Positives aus der Krankheit herausziehen. Die, die normalerweise immer stark sein sollen, dürfen dann mal Schwäche zeigen. Frauen hingegen sind mehr an Schmerzen gewöhnt und trainiert im Umgang damit. Sie haben einmal im Monat ihre Regelblutung und müssen stundenlange Schmerzen bei einer Geburt aushalten können.
Möglicherweise ist es auch eine Frage der Definition, ob es die Männergrippe gibt oder nicht. Bejaht werden kann, dass Männer häufig einen höheren Leidensdruck berichten. Dass sie tatsächlich schwerer erkranken, ist weniger gut belegt. Letzten Endes sollte bei der Behandlung sowieso immer der individuelle Patient mit seinem persönlichen Leidensdruck und seinen Symptomen im Fokus stehen. Überholte Geschlechterrollen oder Klischees sind da zweitrangig. Generell gilt unabhängig vom Geschlecht, dass bei einer Erkältung vor allem Geduld gefragt ist. Nach einer Woche haben die meisten Patienten das Schlimmste überstanden.