Nehmen wir das Virus noch ernst genug? |
Es heißt immer noch Abstand halten! Aus Sicht der Virologen gibt es keinen Grund für eine neue Sorglosigkeit. Doch die Lockerungen scheinen das vielen zu vermitteln. / Foto: Getty Images/Tijana87
Dabei gebe es aus virologischer Sicht keine Grundlage für Lockerungen. »Ein intelligentes Anpassen ja, aber in Summe können wir uns kein Wiederaufflammen der Infektionszahlen leisten.«
Für den Sozialpsychologen Andreas Glöckner von der Universität Köln sind Ermüdungserscheinungen nach wochenlanger Quarantäne ein Stück weit normal: »So eine Belastung ist für eine lange Zeit schwer auszuhalten«, sagte er der Nachrichtenagentur dpa. Die Menschen sehnten sich nach »einem Punkt am Horizont, ab dem sich etwas ändert». Insofern sei die Entscheidung der Politik richtig, den Lockdown nicht zum Dauerzustand zu machen. Denn ohne gute Erklärungen könne so eine Maßnahme zu Aggression und Frust führen.
Empirische Daten – verfügbar bisher aus der Zeit vor dem Beschluss der Lockerungen – zeigten, dass die Akzeptanz der Maßnahmen und das Vertrauen in die Wissenschaft relativ hoch seien, betont Glöckner. »Wir sehen bisher nicht, dass die Risikowahrnehmung zu lax wäre.« Das hänge auch damit zusammen, dass die Menschen sehr gut informiert seien.
Der Wissenschaftler sieht aber durchaus die Gefahr, dass sich die Wahrnehmung mit der Zeit ändert. Ein Faktor könnte dabei gerade die Tatsache sein, dass Deutschland bisher vergleichsweise glimpflich durch die Pandemie kam – Intensivbetten etwa waren frei, während andere Länder in Massen Leichen abzutransportieren hatten. »Viele Menschen haben in den vergangenen Wochen nichts erlebt«, sagt Glöckner. »Der Effekt ist: Man trägt zehn Tage eine Maske, aber am elften nicht mehr. Schließlich ist es zehn Tage lang gut gegangen.«
Virologin Brinkmann befürchtet, dass viele Menschen das Virus nun nicht mehr so ernst nehmen und wieder mehr Kontakte pflegen. »Wenn das passiert, stehen wir bald wieder da, wo wir am Anfang standen«, sagte sie dem »Spiegel«. »Durch die Lockerungen wird die Ansteckungsrate vermutlich wieder über eins steigen – dann haben wir wieder ein exponentielles Wachstum, das man nur sehr schwer unter Kontrolle bekommt.«
Gerade Phänomene wie das exponentielle Wachstum könnten von der Bevölkerung leicht unterschätzt werden, schildert Glöckner – schließlich ist die Geschwindigkeit, mit der sich das Virus dann ausbreiten kann, für Laien kaum vorstellbar.