Nutrigenetik – noch Zukunftsmusik |
Eine ungeheure Vielfalt an Genen beeinflusst den individuellen Stoffwechsel. Formeln für individualisierte Ernährungsempfehlungen lassen sich daraus nicht ableiten. / Foto: Shutterstock/Mopic
Die lebenswichtigen Grundbedürfnisse Essen und Trinken werden in Ländern des Überflusses oft von Trends beeinflusst. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die »gesunde« Ernährung. Dazu gibt es in den letzten Jahrzehnten immer wieder neue vielversprechende Konzepte. Von Rohkost und Vollkost über »low carb« und »free from« ist es mittlerweile die sogenannte personalisierte Ernährung, die als vielversprechendes gesundheitsförderndes Ernährungskonzept angepriesen wird.
Bei dem Thema lohnt sich zunächst ein vergleichender Blick zur personalisierten Medizin. Diese ist aktuell ein großes Forschungsgebiet, das bereits praktische Fortschritte für die Therapie gebracht hat. Sie hat das Ziel, jeden Menschen unter Berücksichtigung seiner individuellen Voraussetzungen bestmöglich zu behandeln. Zukünftig wird es immer öfter möglich sein, vor Beginn einer Behandlung das für den jeweiligen Patienten hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit optimale therapeutische Verfahren auszuwählen. Voraussetzung dafür ist zum einen ein immer besseres Verständnis der molekularen Prozesse bei der Entstehung von Krankheiten. Zum anderen braucht es moderne diagnostische Verfahren, die den individuellen Status schnell und zuverlässig erfassen können. Bei der Behandlung von Brustkrebs wird dies zum Beispiel bereits im Alltag umgesetzt: So erhalten Brustkrebspatientinnen nur dann den Wirkstoff Herceptin, wenn der Tumor ein bestimmtes genetisches Merkmal aufweist. Auch bei Lungenkrebs wird die Behandlung heute schon an das genetische Profil des Tumors angepasst.
Die Frage ist nun, ob diese Herangehensweise auch auf den Schutz der Gesundheit übertragbar ist. Wenn grundlegende Krankheitsmechanismen und molekulare Schaltstellen bekannt sind, könnte es dann nicht möglich sein, durch die gezielte Zufuhr oder Reduktion von Nährstoffen die Ausprägung dieser Erkrankung zu verhindern? Die personalisierte Ernährung ist der Versuch, eine möglichst gesunde Ernährung zu realisieren, die die individuellen Voraussetzungen einer Person berücksichtigt. Die Idee ist verlockend. Eine erste internationale Konferenz zur personalisierten Ernährung fand im Jahr 2005 statt. Seither haben sich immer mehr Forscher diesem Thema zugewandt.
In der Pharmazie ist bekannt, dass manche Arzneistoffe nicht von allen Patienten gleich metabolisiert werden. Grund dafür sind genetisch bedingte Unterschiede der Enzymaktivitäten. Diese Unterschiede sind nicht nur für Arzneistoffe, sondern auch für Nährstoffe relevant. So gibt es beispielsweise individuelle Unterschiede bei der Metabolisierung der Folsäure. Ähnliches wurde bei zahlreichen weiteren Stoffwechselprozessen gezeigt. Aus diesen Erkenntnissen entstand analog zur Pharmakogenetik das Forschungsgebiet der Nutrigenetik oder Nutrigenomik, das sich mit den Wechselwirkungen zwischen Genen und Ernährung beschäftigt. Neben den menschlichen Genen rückt dabei zunehmend das Mikrobiom des Darms in den Fokus, das bekanntlich individuell unterschiedlich zusammengesetzt ist. Da die Stoffwechselprodukte der Darmbakterien mit dem menschlichen Organismus in Wechselwirkung stehen, ist auch dieser Aspekt von Relevanz. Manche Wissenschaftler vermuten, dass das Mikrobiom des Darms sogar bedeutender für individuelle Unterschiede im Stoffwechsel des Menschen sein könnte als die Gene.
Sich an allgemeine Ernährungsempfehlungen halten, vielfältig und abwechslungsreich kochen – dieses Vorgehen liefert dem Körper alle wichtigen Nährstoffe. / Foto: Getty Images/Alistair Berg
Die Idee der personalisierten Ernährung kommt bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern gut an, wie eine Studie zeigt. Bei einer Befragung in Deutschland äußerte etwa ein Drittel der Personen ein starkes Interesse an einer Beratung zu personalisierter Ernährung. Das ist nicht verwunderlich, da personalisierte Ernährung zwei Megatrends der westlichen Gesellschaften aufgreift: Gesundheit und Individualisierung. Viele Menschen suchen nach Konzepten, um die Gesundheit zu erhalten oder zu verbessern und sie sehen die Ernährung dazu als sehr wichtig an. Ein Ernährungsprogramm für sie ganz persönlich erscheint ihnen wesentlich attraktiver und erfolgversprechender als eine allgemeine Ernährungsempfehlung für die gesamte Bevölkerung.
Große Nahrungsmittelkonzerne haben die Idee der personalisierten Ernährung aufgegriffen und versuchen, individuelle Ernährungsstrategien gegen Krankheiten zu entwickeln, für deren Entstehung die Ernährung mit verantwortlich ist. Verschiedene Firmen bieten im Internet Gen- und Bluttests als Basis für persönliche Ernährungsprogramme an. »Durch personalisierte Ernährung können Deine Gesundheitsziele wirksam und langfristig erreicht werden – optimal abgestimmt auf Deinen Körper und Deine Lebensweise«, verspricht ein Hersteller. Personalisierte Ernährung wird derzeit vor allem zur Gewichtsreduktion beworben. Je nach Marketingkonzept wird dem Kunden zum Beispiel in Aussicht gestellt, seinen »Stoffwechseltyp« oder »Nutrityp« herauszufinden. Die Kunden erhalten ein Test-Kit, entnehmen zu Hause Speichel- oder Blutproben und schicken sie an ein Labor. Dieses analysiert die im Speichel enthaltene DNA beziehungsweise bestimmt die Konzentration von Blutparametern. Auf dieser Basis wird ein individueller Ernährungsplan für die Kunden erstellt. Aufgrund der Genanalyse bekommen sie zum Beispiel eine Empfehlung dahingehend, ob sie zum Abnehmen auf Kohlenhydrate, Fette oder Proteine verzichten sollten. Oder sie erhalten die Aussage, dass ein individuelles Risiko für einen genetisch bedingten Nährstoffmangel vorliegt. Ebenso können die Kunden etwas über ihren persönlichen Bedarf an Antioxidantien erfahren oder die Veranlagung zu Lebensmittelunverträglichkeiten. Bluttests bestimmen den Status etwa von Vitamin D, Omega-Fettsäuren, Eisen oder die Cholesterinwerte. Als nächste Schritte folgen Vorschläge für Supplemente und der Kontakt zu einem Ernährungscoach. Das alles ist durchaus kritisch zu sehen, da die meisten Kunden nicht über ausreichend Wissen verfügen, um die Analysenergebnisse beurteilen zu können.
Im Jahr 2011 wurde ein EU-finanziertes gemeinsames Forschungsprojekt verschiedener europäischer Universitäten aufgelegt, das sich unter dem Titel »Food4Me« mit personalisierter Ernährung beschäftigte. Forscher sollten das aktuelle Wissen über personalisierte Ernährung sichten und die Anwendung individualisierter Ernährungsempfehlungen untersuchen. Eine Studie an acht europäischen Studienzentren mit insgesamt 1300 Teilnehmern prüfte auf der Grundlage von physiologischen, klinischen oder genetischen Parametern, ob personalisierte Ernährungsempfehlungen zu einer größeren Gewichtsabnahme führen als konventionelle. Es zeigte sich kein Unterschied in der Gewichtsabnahme zwischen den genbasierten Ernährungsempfehlungen gegenüber einer konventionellen Ernährungsberatung.
Zwischenzeitlich gibt es eine Fülle weiterer Studien, um das komplizierte Puzzle aus Genen, Nahrung und Stoffwechselprodukten zu verstehen. Selbst wenn keine Zweifel bestehen, dass Menschen unterschiedlich verstoffwechseln, so ist die Forschung weit davon entfernt, daraus Ernährungsempfehlungen abzuleiten. Die Ergebnisse seien ernüchternd, resümierte Professor Dr. Hannelore Daniel, eine Pionierin auf dem Gebiet der Nutrigenomik, bei einem Kongress im Herbst letzten Jahres in Heilbronn. Im menschlichen Genom gäbe es Millionen Varianten; diese zu untersuchen sei bislang viel zu komplex. Hinzu kommt, dass die Gene nur ein Faktor unter mehreren sind, die bei der Entwicklung von Krankheiten eine Rolle spielen. Der individuelle Lebensstil sowie psychische und soziale Faktoren sind ebenfalls von großer Bedeutung. Kurz gesagt: Einfache individuelle Ernährungsempfehlungen auf wissenschaftlicher Basis wird es in nächster Zukunft nicht geben – vielleicht sogar überhaupt nicht.