Osteopathie für Kinder |
Es gibt viele Gründe für Eltern, mit ihrem Baby Hilfe beim Osteopathen zu suchen, einer davon: anhaltendes Schreien. / Foto: Adobe Stock/fascinadora
Viele junge Eltern hören heute oft schon kurz nach der Geburt das erste Mal von der Osteopathie. Einige Hebammen und Kinderärzte empfehlen sie, wenn das Baby sehr unruhig ist, viel weint oder schlecht schläft. Freunde berichten, wie der Osteopath innerhalb kürzester Zeit das Kind dazu gebracht hat, nicht mehr ausschließlich zu einer Seite zu gucken und wie schön rund der Kopf nun ist.
Die Osteopathie gilt als besonders sanfte Behandlungsmethode, die bereits bei Neugeborenen, aber auch bis ins hohe Seniorenalter hinein angewendet werden kann. Vor allem bei Kindern ist das Behandlungsspektrum breit gestreut. So sind nach Ansicht von Osteopathen etliche typische Säuglingsprobleme wie Einschränkungen der Kopfbeweglichkeit, Trinkschwäche, C-förmige Haltung, Abflachung des Hinterkopfs, Schlafstörungen, Unruhe oder Koliken die Folgen von Blockaden, die aus der Schwangerschaft oder Geburt resultieren. Auslöser sollen zum Beispiel Medikamente, ein Kaiserschnitt, eine schwierige, lang dauernde Geburt oder eine Saugglockenentbindung sein. Im Kindesalter wird die Osteopathie bei Koordinations- und Gangstörungen, Entwicklungsverzögerungen im Bereich von Motorik und Sprache, ADHS sowie Schmerzen unklarer Ursache oder Bettnässen eingesetzt.
Entwickelt wurde das Konzept der Osteopathie im 19. Jahrhundert. Der amerikanische Arzt Andrew Taylor Still glaubte, dass der Mensch eine Einheit aus Körper, Geist und Seele bildet, die alle Möglichkeiten der Heilung in sich trägt. Die einzige Voraussetzung dafür: eine gute Beweglichkeit und Dynamik in allen Körperbereichen. Einschränkungen wollte er mit seinen Händen aufspüren und beseitigen, wodurch der Körper seine Selbstheilungskräfte wiedererlangen sollte.
Während Stills Fokus auf dem Bewegungsapparat lag, entwickelten spätere Osteopathen neue Richtungen. Einer seiner Schüler, William Garner Sutherland, entdeckte feine, eigenständige pulsierende Bewegungen, die am Kopf, Steißbein und weiteren Strukturen zu spüren sein sollen. Diese sogenannte primäre Respirationsbewegung soll unabhängig von Herzschlag und Atmung sein und bildete fortan die Grundlage für die craniosacrale Osteopathie. In Frankreich erarbeiteten Jean-Pierre Barral und Jacques Weischenck die viszerale Osteopathie, deren Fokus auf der Untersuchung und Behandlung der inneren Organe sowie deren bindegewebigen Aufhängungen liegt.
Wissenschaftlich ist das Konzept der Osteopathie bis heute umstritten. So gibt es bisher keine Beweise, dass die von Osteopathen erspürten Bewegungen tatsächlich existieren. Zudem wird von Kritikern angezweifelt, ob die menschliche Hand derartige Rhythmen überhaupt wahrnehmen könnte. Ein weiteres Problem der wissenschaftlichen Bewertung liegt darin, dass sich die evidenzbasierte Medizin an Krankheitsdiagnosen, die Osteopathie jedoch an individuellen Befundkonstellationen orientiert. Trotz weltweit wachsender Forschungsaktivitäten existieren nur wenige Studien, die den Anspruch der evidenzbasierten Medizin erfüllen. Eine größere Metaanalyse mit 17 randomisierten, kontrollierten Studien und insgesamt 887 Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren wurde 2013 durchgeführt. Sie kommt zu dem Schluss, dass es keinen wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis für osteopathische Behandlungen in der Pädiatrie gibt.
Dennoch ist die Osteopathie bei Eltern beliebt und viele lassen ihre Kinder osteopathisch behandeln. In einer aktuellen Forsa-Studie, die im Auftrag des Verbandes der Osteopathen Deutschland e. V. (VOD) mit knapp 2500 Eltern durchgeführt wurde, gaben 13 Prozent der Befragten an, mit ihren Säuglingen und Kleinkindern bis zum Alter von fünf Jahren bereits einmal bei einem Osteopathen gewesen zu sein. Weitere 13 Prozent haben mit ihren 6- bis 19-Jährigen Kindern eine osteopathische Behandlung in Anspruch genommen.
Über mögliche Nebenwirkungen der Osteopathie ist ebenfalls wenig bekannt. Systematische Daten sind nicht vorhanden. In einer gemeinsamen Stellungnahme der Gesellschaft für Neuropädiatrie, der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte und der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin gehen die Experten jedoch davon aus, dass schwerwiegende Zwischenfälle bei klassischen osteopathischen Behandlungen nicht auftreten sollten. Sie seien meist die Folge abrupter Rotationsbewegungen, die in der Osteopathie nicht angewendet werden. Dennoch sehen die Kinderärzte eine gewisse Gefahr in der starken Zunahme der Behandlungen. Unter Umständen könne bei ausschließlicher osteopathischer Behandlung eine richtige Diagnose verzögert gestellt werden. Deshalb sollte der erste Gang immer zum Kinderarzt führen, auch um Kontraindikationen auszuschließen. Wichtig ist ebenfalls zu wissen, dass gerade bei Säuglingen osteopathische Indikationen wie Unruhe, übermäßiges Schreien oder Rumpfasymmetrien sehr häufig spontan und ohne jegliches Zutun verschwinden. Dennoch können Ansätze wie die Osteopathie hier durchaus ihre Berechtigung haben, da die Wirkung des Placeboeffekts manchmal einiges bewirken kann.
Sind Eltern auf der Suche nach einem Osteopathen, sollten sie wissen, dass es in Deutschland weder einen anerkannten Abschluss noch einheitliche Lehrpläne für die Behandlungsform gibt. Die Ausbildung erfolgt überwiegend an privaten Schulen für Osteopathie. Ärzte, Heilpraktiker und Physiotherapeuten können sich berufsbegleitend ausbilden lassen. Daneben existiert eine Vollzeitausbildung, die 5000 Unterrichtseinheiten vorsieht und mit einer Dauer von fünf Jahren den längsten Ausbildungsweg darstellt.
Ein eigenständiger, staatlich anerkannter Beruf ist der Osteopath nicht. Er wird durch das Heilpraktikergesetz geregelt und ist in seiner Ausübung ausschließlich Ärzten und Heilpraktikern vorbehalten. Auch Absolventen einer Vollzeitschule müssen während oder nach der Ausbildung die Heilpraktikerprüfung ablegen. Osteopathisch geschulte Physiotherapeuten dürfen nur auf Zuweisung durch einen Arzt oder Heilpraktiker tätig werden. Die beiden größten Berufsverbände in Deutschland, der VOD und der Bundesverband Osteopathie e. V. (BVO) kritisieren diese Regelung und fordern ein Berufsgesetz, das die Qualität der Ausbildung gewährleistet und Rechtssicherheit für die Osteopathen bietet. Laut VOD sei eine Überprüfbarkeit der Ausbildungskriterien derzeit kaum möglich und der einzige Qualitätsstandard die Berufsverbandszugehörigkeit. Doch auch hier gäbe es Unterschiede. Während bei einigen Verbänden ein Weiterbildungsnachweis von 300 Stunden zum Beitritt berechtigt, sieht der VOD eine vierjährige Ausbildung mit mindestens 1350 Stunden vor. Kontaktdaten von Osteopathen, die diese Vorrausetzungen erfüllen, werden vom Verband bereitgestellt.
Um Kinder adäquat behandeln zu können, sei zudem eine Weiterbildung in der Kinder-Osteopathie wichtig, so die Deutsche Gesellschaft für Kinder-Osteopathie (DGKO). Diese können Osteopathen nach der Grundausbildung absolvieren. Im Mittelpunkt stehen die sensorische, emotionale und neurologische Entwicklung von Kindern sowie die spezielle Kinderpathologie. Sie stellen auf ihrer Website ebenfalls eine Übersicht mit entsprechend weitergebildeten Osteopathen zu Verfügung.
Neben der Berufsverbandszugehörigkeit können Eltern die 8-Punkte-Checkliste des BVO verwenden, um die Arbeit eines Osteopathen besser einschätzen zu können. Demnach beginnt die erste Behandlung mit einem ausführlichen Anamnesegespräch. Anschließend überprüft der Osteopath die Körperhaltung, die Beweglichkeit des Körpers und tastet diesen nach weiteren Auffälligkeiten ab. Der Osteopath soll dabei das Gewebe Schicht für Schicht erspüren und die Beschaffenheit, Temperatur, Spannung und Beweglichkeit von Haut, Gewebe, Bändern, Faszien, Knochen und inneren Organen wahrnehmen können. Aus Sicht der Osteopathie kann der Körper nur optimal funktionieren, wenn in all diesen Bereichen genügend Bewegungsfreiheit vorhanden ist. Ist dies nicht der Fall, entstehen zunächst Gewebespannungen, dann Funktionsstörungen und schließlich Beschwerden. Das Ziel der Behandlung ist es, diese Blockaden aufzuspüren und manuell zu beseitigen. Sobald alle Strukturen gut beweglich sind, soll der Körper sich selbst heilen können.
Ebenfalls auf der Checkliste aufgeführt ist ein seriöser, respektvoller und empathischer Umgang des Osteopathen mit seinen Patienten. Zudem weist der BVO darauf hin, dass für die Behandlung kein vollständiges Entkleiden notwendig ist und im besten Fall alle Körperteile, die nicht behandelt werden, unter einer Decke liegen sollten. Wichtig sei auch, dass der Osteopath das Anamnesegespräch und die Behandlung schriftlich dokumentiert und keine Heilversprechen macht. Ob weitere Behandlungen notwendig sind, könne erst nach einer Behandlung entschieden werden, so dass der Verkauf von Zehnerkarten und ähnlichem nicht seriös sei.
Laut DGKO lassen sich bei Kindern viele Beeinträchtigungen bereits mit einer oder zwei osteopathischen Behandlungen korrigieren. Die Kosten (zwischen 70 und 120 Euro pro Behandlung) müssen von den Eltern grundsätzlich selber getragen werden. Viele Krankenkassen beteiligen sich jedoch anteilig. Wie hoch der Zuschuss ausfällt, kann bei der Krankenkasse erfragt werden.