Pharmakotherapie im Alter |
Zu viel, um den Überblick zu behalten: Viele Senioren brauchen Hilfe, damit sie ihre Medikamente in der richtigen Dosierung und zur richtigen Zeit einnehmen können. / Foto: Adobe Stock/Kenishirotie
Aktuell ist gut ein Fünftel der Bevölkerung 65 Jahre oder älter. Diese Gruppe erkrankt altersbedingt häufiger und braucht viele Medikamente. Je nach Statistik nehmen Menschen zwischen 60 und 64 Jahren durchschnittlich zwei bis drei verschiedene Arzneimittel pro Tag ein, über 80-jährige sogar vier bis fünf. Hinzu kommen freiverkäufliche Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel. Das birgt Risiken. Bei Patienten, die fünf Medikamente oder mehr anwenden, sind potentielle Interaktionen zwischen den Substanzen nicht mehr vorhersehbar. Zu hinterfragen ist bei dieser Polypharmazie, ob der Patient wirklich alle Mittel benötigt.
»Manchmal ist der Medikamentencocktail so groß, dass ein Teil der Präparate nur gegen die Nebenwirkungen der anderen gegeben wird«, sagt Professor Dr. med. Petra A. Thürmann, Direktorin des Philipp Klee-Instituts für Klinische Pharmakologie des Helios Universitätsklinikums Wuppertal, im Gespräch mit PTA-Forum. Das Apothekenteam kann hier mit einer gezielten Medikamentenanalyse und einer spezifischen Beratung zu bestimmten Arzneimitteln helfen. Dazu braucht es Einfühlungsvermögen und aktives Nachfragen, weil Patienten von sich aus Therapieunsicherheiten oft verschweigen.
Es gibt verschiedene Gründe, warum alte Menschen Arzneimittel im Alter weniger gut vertragen. So verändern sich bei Senioren infolge normaler Alterungsprozesse Pharmakokinetik und Pharmakodynamik von Arzneistoffen im Vergleich zu jüngeren Menschen. Im Alter sinkt beispielsweise der Eiweißgehalt des Körpers. Arzneistoffe können nur noch vermindert an Eiweiß gebunden werden. Da an Eiweiß gebundener Arzneistoff nicht für die Interaktion mit den Zielstrukturen zur Verfügung steht, fällt die Wirkung umso stärker aus, je mehr Arzneistoff ungebunden vorliegt. Für ältere Patienten bedeutet das, Arzneimittel in gleicher Dosierung können stärker wirken als bei jüngeren Menschen und somit auch stärkere Nebenwirkungen mit sich bringen.
Im Alter sinkt zudem der Wassergehalt im Körper. Das bedeutet, dass wasserlösliche Arzneistoffe wie Digitalisglykoside oder einige Antidiabetika stärker wirken. Da der Fettgehalt im Körper zunimmt, werden fettlösliche Medikamente wie etwa Benzodiazepine länger gespeichert und wirken somit auch länger. Auch der Abbau von Muskelmasse sowie ein verlangsamter Transport im Körper können die Wirkung und deren Dauer beeinflussen. Nicht zuletzt lässt die Funktion wichtiger Organe im Alter nach, etwa der Niere und der Leber. Das beeinflusst den Abbau und die Elimination von Arzneistoffen. Um zu starke oder zu schwache Arzneimittelwirkungen zu verhindern, muss der behandelnde Arzt die Dosis anpassen – mit Blick auf die individuelle Leber- und Nierenfunktion sowie den allgemeinen Gesundheitszustand des Patienten.
Körperliche Veränderungen im Alter. Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Referat Gesundheitsforschung; Medizintechnik: https://www.bmbf.de/upload_filestore/pub/Medikamente_im_Alter.pdf. / Foto: PTA-Forum
Die Verträglichkeit von Arzneimitteln im Alter wird auch dadurch beeinträchtigt, dass Zellen und Gewebe, etwa das Nervensystem, selbst anfälliger werden oder weil Kompensationsmechanismen nicht mehr so gut funktionieren. Dazu erklärt Thürmann: »Ein klassischer Fall sind Medikamente, die rasch den Blutdruck senken, worauf gesunde junge Menschen mit einem etwas schnelleren Puls gegenregulieren.« Das Blut versackt dann nicht in die Beine, und es treten keine Symptome wie eine Ohnmacht auf. Im Alter sei die Gegenreaktion verzögert und viel schwächer, so dass Senioren leichter schwindelig werde oder sie gar in Ohnmacht fallen. »Nebenwirkungen haben bei älteren Menschen auch häufig schlimmere Konsequenzen. Wenn es einem jüngeren Menschen schwindelig wird, so kann er sich in der Regel aufrecht halten. Im Alter kommt die nachlassende Sehkraft hinzu, und die Knochen sind schon etwas brüchig. So steigt das Risiko zu stürzen und sich dabei etwas zu brechen«, so die Expertin.
Nicht immer ist es einfach, Nebenwirkungen von normalen Alterserscheinungen zu unterscheiden. Wenn Patienten vermehrt Schwindel, Verwirrung, Unruhe, Erinnerungsstörungen, eine erhöhte Sturzgefahr, Mundtrockenheit, Magen-Darm-Probleme, Beschwerden beim Wasserlassen oder Schlafstörungen an sich feststellen, sind sie mitunter versucht, diese »aufs Alter« zu schieben. Die PTA sollte gezielt nachfragen, ob die Beschwerden schon länger bestehen oder ob sie eher plötzlich, beispielsweise nach einer Medikamentenumstellung (verstärkt), aufgetreten sind.
Je älter, desto mehr: Die Zahl der eingenommenen Arzneimittel steigt stetig an, nur bei den Hochbetagten nimmt sie geringfügig ab. Die genannten Zahlen berücksichtigen nur Arzneimittel, die zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet wurden (Quelle: Schwabe/Paffrath; Arzneiverordnungsreport 2017; Angaben in definierten Tagesdosen [DDD]). / Foto: PTA-Forum
Unter den von betagteren Patienten häufig gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Hormon- und Stoffwechselstörungen, Schmerzen oder psychiatrische Störungen eingenommenen Medikamenten befinden sich einige, die für ältere Menschen weniger gut geeignet sind als für jüngere. Dazu gehören Diuretika. Für ältere Menschen, die an Blasenschwäche oder gar Inkontinenz leiden, kann die angeregte Nierentätigkeit höchst unangenehm sein. Betroffene Patienten schämen sich jedoch oft, mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt beziehungsweise dem Apothekenteam über ihr Problem zu sprechen und nehmen die Medikamente stattdessen einfach nicht mehr ein.
Eine Liste von »potenziell inadäquaten Medikamenten« für Ältere, kurz PIM, fasste das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Verbundprojekt PRISCUS (von lateinisch priscus = alt, altehrwürdig) in der sogenannten PRISCUS-Liste zusammen. Diese 2010 veröffentlichte Liste beinhaltet 83 Wirkstoffe aus 18 Arzneistoffklassen und wurde 2018 nach einem Europäischen Konsensverfahren auf 98 Wirkstoffe erweitert. Diese Erweiterung ist bislang nur in der »Laien-Version« publiziert. Interessierte können hier die Veröffentlichung einsehen und eine Printversion bestellen.
Senioren, die ein Medikament einnehmen sollen, das auf dieser Liste steht, müssen nicht zwangsläufig Nebenwirkungen bekommen, das Risiko dafür ist aber erhöht. Verunsicherte Patienten dürfen die Medikamente keinesfalls eigenständig absetzen, sondern sollten zunächst mit ihrem Arzt sprechen. Es kann sein, dass sich Alternativen nicht eignen, da sie zum Beispiel im individuellen Fall unverträglich sind oder der Arzt wegen möglicher Interaktionen der Alternativen mit anderen für den Betroffenen wichtigen Arzneimitteln ein Präparat von der PRISCUS-Liste verschreiben muss. Für eine Beratung zum Risikopotential steht auch das Apothekenteam zur Verfügung.
Auch Interkationen häufig verordneter Mittel sind ein Problem. »Besonders vorsichtig sollte man mit Patienten umgehen, die jegliche Art von Blutverdünnern einnehmen, das heißt, von ASS über Phenprocoumon bis hin zu den neueren oralen Antikoagulanzien wie Apixaban, Dabigatran, Rivaroxaban oder Edoxaban«, erklärt Thürmann. »Hier gibt es zahlreiche Interaktionen, die auch noch nicht alle Ärzte kennen. Besonders die Wechselwirkungen mit frei erhältlichen NSAR sind von Bedeutung.«
Senioren nehmen häufig auch diverse Stimmungsaufheller ein. Bei solchen Präparaten, aber auch bei anderen Psychopharmaka ist das Potential für Wechselwirkungen groß. »Hier lohnt sich eine intensive Beratung. Nicht nur, aber vor allen Dingen auch bei Johanniskraut«, so die Fachärztin für Klinische Pharmakologie. Die zunehmende Anzahl von Patienten mit oralen Krebsmedikamenten, die zahlreiche Wechselwirkungen verursachen, stellen eine weitere Herausforderung dar. »Viele der Tumormedikamente vertragen sich nicht mit den gängigen Protonenpumpenhemmern, Cholesterinsenkern (Statine) und einigen Antihypertensiva«, warnt Thürmann. Auch hier lohnt ein sorgfältiger Interaktionscheck in der Apotheke.
Ihren täglich einzunehmenden Medikamentencocktail zu überblicken, überfordert Senioren häufig. Das Management wird weiter erschwert, wenn der Patient unter einer Demenz leidet. Hilfsmittel wie Sortier- und Dosiersysteme oder für internetaffine Senioren auch geeignete Erinnerungshilfen per App können unterstützen. Negativ auf die Therapietreue können sich indes durch Rabattverträge verursachte Umstellungen auswirken. Um Patienten vor ständigen Wechseln auf andere Präparate zu verschonen, können bei der Abgabe durch die Apotheke pharmazeutische Bedenken angemeldet werden. Am besten hilft das aut-idem-Kreuz des Arztes.
Leiden Senioren an Erkrankungen, die die Motorik beeinträchtigen, etwa an Parkinson oder einer rheumatischen Erkrankung, kann das Öffnen einer Arzneimittelverpackung oder das Dosieren beispielsweise von Tropfen zum unüberwindbaren Hindernis werden. Ob Patienten ihre Medikamente selbst richten, dies Angehörige übernehmen und ob alles korrekt abläuft, kann das Apothekenteam durch Nachfragen herausfinden. »Dabei erfährt man oft erstaunliche Dinge, zum Beispiel auch, dass Patienten ihre Medikamente nicht richtig einnehmen, weil sie die Tabletten nicht teilen können, die Blister nicht aufbekommen oder mit dem Tropfenzähler nichts anfangen können, weil sie viel zu schlecht sehen«, so Thürmann. Auch die Handhabung von Insulin-Pens, Asthmasprays oder Augentropfen erfordert Fingerspitzengefühl und Koordination. Nicht umsonst spreche man von Medikationskomplexität, wenn es um die korrekte Anwendung geht, so die Expertin.
Das Apothekenteam sollte sich Zeit für Erklärungen nehmen und wenn möglich auch die Handhabung vorführen. Manchmal sind Hilfsmittel eine Option. So erleichtern etwa Tropfhilfen wie AutoDrop die Applikation von Augentropfen. Die PTA kann auch prüfen, ob es Darreichungsformen gibt, mit denen die Patientin oder der Patient besser zurechtkommt und die Arztpraxis bitten, die Verschreibung zu ändern. Fällt es einem Patienten schwer, Medikamente aus der Packung zu bekommen, kann das pharmazeutische Personal anbieten, die Umverpackung noch in der Offizin zu öffnen. Tut er sich schwer damit, Tabletten mit Bruchkerben zu teilen, kann die PTA einen Tablettenteiler anbieten. Wichtig ist auch der Hinweis, dass die Dosierung nicht stimmt, wenn das Teilen ungenau ausfällt. Gerade bei Arzneimitteln mit enger therapeutischer Breite wie Schilddrüsenhormonen oder Lithium(-salzen) kann das gesundheitliche Auswirkungen haben. Klagen ältere Menschen darüber, die kleine Schrift auf der Packung oder der Gebrauchsanweisung kaum lesen zu können, kann der Hinweis auf eine geeignete Lesebrille oder Lupe helfen.
Nicht zuletzt sollen sich ältere Patienten in der Apotheke wohlfühlen und diese gut erreichen können. Ein Zugang, der sich auch für Menschen mit Gehhilfen, Rollatoren oder im Rollstuhl eignet, sollte selbstverständlich sein. Sich elektronisch öffnende Türen und ausreichend Platz zum Rangieren erleichtern den Besuch in der Offizin. Auch eine Sitzgelegenheit, um die Wartezeit zu überbrücken, nehmen gerade Senioren gerne in Anspruch.
Indikation: Schlafstörungen, Erregungs- und Angstzustände
Indikation: Herzerkrankungen wie Herzschwäche, Herzrhythmusstörungen
*(Herzrhythmusstörungen der Herzvorhöfe oder der Herzkammern)
Indikation: Bluthochdruck
Indikation: Depression
Indikation: Allergien
Indikation: Schmerzen und Entzündungen
Handlungsempfehlungen bei für Senioren ungeeigneten Medikamenten. Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Referat Gesundheitsforschung; Medizintechnik. / Foto: PTA-Forum