Polio-Viren im Abwasser |
Verena Schmidt |
29.01.2025 12:00 Uhr |
Die Polio-Schluckimpfung wird in Deutschland nicht mehr eingesetzt, in anderen Ländern aber schon. Frisch geimpfte Personen scheiden die abgeschwächten Impfviren dann eine Zeit lang aus – so gelangen diese dann ins Abwasser. / © Adobe Stock/Kirill Gorlov
Im Rahmen eines Forschungsprojekts wird das Abwasser in München, Mainz, Köln, Bonn, Düsseldorf, Dresden und Hamburg laut Robert-Koch-Institut (RKI) regelmäßig auf Polioviren getestet. Im Oktober und November vergangenen Jahres waren in allen sieben Städten nun jedoch Polioviren nachgewiesen worden.
Was bedeutet dies jetzt genau? Bei den nachgewiesenen Viren handelt es sich um sogenannte zirkulierende Impfstoff-abgeleitete Polioviren (circulating vaccine-derived polioviruses, cVDPV) vom Typ 2. Sie stammen ursprünglich von den abgeschwächten Impfviren des oralen Lebendimpfstoffs ab, durch Mutationen sind sie aber wieder pathogen geworden. Bei Menschen, die nicht oder nicht ausreichend geimpft sind, können diese Viren also potenziell eine Poliomyelitis auslösen.
In Deutschland wird die Schluckimpfung (oral polio vaccine, OPV) mit dem abgeschwächten, aber lebenden Virus seit 1998 nicht mehr eingesetzt. Hierzulande wird ein Impfstoff mit inaktivierten Viren (inactivated polio vaccine, IPV) intramuskulär verabreicht. Da die Schluckimpfung derzeit aber noch in einigen Ländern eingesetzt wird, seien Nachweise von Impfviren im Abwasser nicht ungewöhnlich, auch in Ländern, die keine Schluckimpfung mehr nutzen, schreibt das RKI. Durch Reisende seien bereits mehrfach Impfviren nach Deutschland gebracht und im Abwasser nachgewiesen worden. Denn: Frisch geimpfte Personen scheiden die abgeschwächten Impfviren eine Zeit lang aus. In Ländern, die die orale Impfung nutzen, ist dies sogar teilweise erwünscht, weil so auch Menschen mit den Impfviren in Kontakt kommen und immunisiert werden, die gar nicht geimpft wurden.
Die Nachweise von cVDPV, also mutierten zirkulierenden Impfstoff-Polioviren, sind dem Institut zufolge aber ungewöhnlich. Menschen, die nicht oder nicht ausreichend gegen Polio geimpft sind, können in seltenen Fällen an Poliomyelitis erkranken, wenn sie die cVDPV aufnehmen. Es sei daher möglich, dass in Deutschland vereinzelt cVDPV-Fälle unter nicht ausreichend geimpften Menschen auftreten. Bislang seien aber weder Verdachts- noch bestätigte Erkrankungsfälle an das RKI übermittelt worden.
Die STIKO rät dennoch, den Impfstatus zu checken und fehlende Impfungen nachzuholen. »In der aktuellen Situation ist es wichtig, den Impfstatus von Kindern als besonders vulnerable Gruppe für Poliomyelitis zu überprüfen und versäumte Impfungen schnellstmöglich nachzuholen«, schreibt die STIKO im Epidemiologischen Bulletin 50/2024. »Angesichts der aktuellen Impfquoten und der nun im Abwasser nachgewiesenen Schluckimpfstoff-abgeleiteten Polioviren besteht die Möglichkeit, dass in Deutschland Infektionsketten in der Bevölkerung nachgewiesen werden und auch wieder Menschen an Poliomyelitis erkranken. Um dies zu verhindern, müssen Impflücken schnellstens und altersgerecht geschlossen werden, insbesondere bei Säuglingen, Kleinkindern und Vorschulkindern«, so die STIKO.
Die IPV-Impfung ist Teil des kombinierten Sechsfachimpfstoffs gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Poliomyelitis, Haemophilus influenzae Typ b und Hepatitis B. Seit 2020 werden Kinder in Deutschland nach dem 2+1-Schema gegen Polio geimpft, sie erhalten also insgesamt drei Impfungen im Alter von zwei, vier und elf Monaten (statt zuvor vier Impfungen im 3+1-Schema). Die zweite Impfstoffdosis soll dabei mindestens zwei Monate nach der ersten und die dritte Impfstoffdosis mindestens sechs Monate nach der zweiten Impfstoffdosis gegeben werden, um eine bessere Immunantwort zu erzielen. Die Grundimmunisierung soll mit zwölf Monaten abgeschlossen sein. Anschließend soll eine Auffrischimpfung im Alter von 9 bis 16 Jahren erfolgen. Eine routinemäßige Auffrischimpfung im Erwachsenenalter empfiehlt die STIKO nicht.
Die Impfquoten lassen allerdings zu wünschen übrig. Daten aus dem RKI-Impfquotenmonitoring zeigen, dass zum ersten Geburtstag nur 21 Prozent aller Kinder alle drei Impfungen erhalten haben. Damit seien eine halbe Million Kinder eines Geburtsjahrgangs am ersten Geburtstag noch nicht vollständig vor Polio geschützt, heißt es im Epidemiologischen Bulletin. Auch im Alter von zwei Jahren besitzen erst 77 Prozent einen vollständigen Impfschutz. Über 180.000 Kinder des Geburtsjahrgangs 2021 waren dem RKI zufolge an ihrem zweiten Geburtstag nicht vollständig geimpft.
Bei den Impfquoten gibt es auch deutliche regionale Unterschiede: Zu den Bundesländern mit den höchsten Polioimpfquoten im Alter von 24 Monaten gehören Niedersachsen (82 Prozent), Schleswig-Holstein und Hamburg (je 81 Prozent). Die niedrigsten Polioimpfquoten in diesem Alter weisen Baden-Württemberg (69 Prozent), Sachsen (72 Prozent) und Bremen (74 Prozent) auf. Da für die Impfung gegen Polio fast immer der Sechsfachimpfstoff genutzt werde, können ähnliche Beobachtungen auch für andere im Sechsfachimpfstoff enthaltenen Komponenten gemacht werden, so das RKI.
Im Jahr 1988 hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO auf der Basis des breiten Einsatzes des oralen Polio-Lebendimpfstoffs die Globale Initiative zur Ausrottung der Poliomyelitis gestartet. Ziel war die Eradikation der Poliomyelitis bis zum Jahr 2000. Das hat leider nicht ganz geklappt, aber dennoch konnte die Zahl der Polio-Fälle weltweit im Vergleich zu den 1980er-Jahren um 99,9 Prozent verringert werden.
Inzwischen gelten fünf von sechs Regionen, in die die WHO die Welt unterteilt, als Polio-frei. Zuletzt kam 2020 die WHO-Region Afrika hinzu. Aktuell zirkuliert nur noch der Wildtyp 1 in Afghanistan und Pakistan. Jedoch kommt es laut RKI aktuell vor allem in Afrika zu Ausbrüchen durch zirkulierende Impfstoff-abgeleitete Polioviren. Da immer die Möglichkeit besteht, dass Wildtyp-Viren oder cVDPV nach Deutschland importiert werden, sind hohe Impfquoten und eine Überwachung auch in Polio-freien Regionen weiterhin wichtig.