Psychotherapeutische Unterstützung gefragt |
Vor allem Frauen und Kinder sind aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. Viele von ihnen sind traumatisiert und brauchen psychotherapeutische Hilfe. / Foto: Adobe Stock/Halfpoint
In diesen Monaten erlebt Europa die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg: Zwischen Ende Februar und Ende Mai 2022 wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mehr als 800.000 Personen aus der Ukraine in Deutschland registriert. Fast alle sind ukrainische Staatsbürger – rund zwei Drittel von ihnen Frauen, 40 Prozent Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Sie sind mit wenigen wichtigen Sachen geflüchtet und haben ihre Partner und Familien, ihre Heimat, die gewohnte Umgebung und ihre alltäglichen Routinen verlassen.
Im Gegensatz zur Flüchtlingsbewegung 2015 kommen die Geflüchteten nicht aus Staaten, die von Repression und Folter geprägt waren, erklärt Professor Dr. Kerstin Weidner, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum Dresden. »Was die Menschen aus der Ukraine im Einzelnen erlebt haben und wie hoch der Anteil an Traumatisierungen ist – das ist noch nicht abzusehen.« Auf jeden Fall werden diese Menschen psychotherapeutische Unterstützung benötigen, um mit ihrer neuen Lebenssituation und gegebenenfalls psychosozialen Folgen zurechtzukommen. Und auch diejenigen, die sie ehrenamtlich beraten, begleiten oder ihnen Unterkunft gewähren, brauchen Hilfe.
Die Bedürfnisse der Geflüchteten seien sehr verschieden, erläutert Weidner. »Längst nicht alle entwickeln eine Traumafolgestörung, und es darf weder zu einer Verharmlosung noch zu einer Pathologisierung kommen.« So bestünden beispielsweise große Unterschiede zwischen den Frauen und Kindern, die unmittelbar mit Kriegsbeginn geflüchtet sind und in privaten, teilweise zur erweiterten Familie gehörenden Haushalten Aufnahme gefunden haben, und denen, die militärische Angriffe und Zerstörung erlebt hätten oder in Massenaufnahmeeinrichtungen wie Messe- oder Turnhallen leben.
Alle sind aber mehr oder weniger vom sogenannten »Flüchtlingssyndrom« betroffen: Sie sind erschöpft und orientierungslos, haben mit einem Mal kaum noch Privatsphäre und fürchten um diejenigen, die in der Heimat zurückgeblieben sind: etwa Männer, die das Land nicht verlassen dürfen und zum Militär eingezogen wurden, und Familienangehörige, die aus Alters- oder Krankheitsgründen nicht mitgekommen sind. Solch ein Zustand geht oft mit Desorientierung, Verlorenheitsgefühl und Zukunftsangst einher.
Eine wichtige Rolle spielt auch die psychische Gesundheit der Menschen vor ihrer Flucht. Bereits bestehende Probleme und Störungen können sich in der neuen Situation verstärken. Wie das Robert-Koch-Institut (RKI) berichtet, sind in der Ukraine mit geschätzt 12,4 Prozent der Bevölkerung insgesamt weniger Menschen von psychischen Störungen betroffen als in Deutschland mit 15 Prozent. Im Vergleich zu Deutschland kommen aber depressive und alkoholbezogene Störungen und auch Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen mit Hyperaktivität (ADHS) sowie entwicklungsbezogene Störungen in der Ukraine etwas häufiger vor. Auch die Suizidrate ist in der Ukraine mit 30,6 von 100.000 Personen vergleichsweise hoch, der globale Durchschnitt liegt laut der Weltgesundheitsorganisation WHO bei 10,39 von 100.000.
Infolge des Krieges 2014 und den anhaltenden Unsicherheiten und Belastungen, etwa verbunden mit der Flucht aus ostukrainischen Gebieten, war in der Ukraine bereits 2019/2020 ein Anstieg psychischer Störungen zu verzeichnen – auch bei Kindern und Jugendlichen. Was die Flucht für Kinder bedeutet, vermittelt beispielhaft und mit vielen Praxisbezügen und -tipps die Informationsbroschüre »Folgen einer Flucht für Eltern und Kinder«. Sie steht bei der Universität Marburg zum Download zur Verfügung. Neben der exemplarischen Schilderung der Geschichte eines traumatisierten Jungen verweist die Broschüre auf Anlaufstellen für professionelle Unterstützung und enthält auch niedrigschwellige Tipps für den Alltag rund um Essen, Trinken und Schlafen.