Reiche Arzneimittel-Ernte im Oktober |
Sven Siebenand |
13.10.2022 11:00 Uhr |
Die hohen Temperaturen dieses Sommers haben für höhere Zuckerwerte im Apfel gesorgt und lassen süße Früchtchen erwarten. Eine gute Ausbeute gibt es auch bei den neuen Arzneimitteln auf dem Markt. / Foto: Adobe Stock/yanadjan
Der erste neue Arzneistoff, von denen nierenkranke Patienten profitieren können, heißt Difelikefalin (Kapruvia®, Vifor Pharma). Er ist zur Behandlung von mäßigem bis schwerem Juckreiz in Zusammenhang mit einer chronischen Nierenerkrankung bei erwachsenen Hämodialyse-Patienten zugelassen. Rund 60 bis 70 Prozent aller Hämodiaylse-Patienten sind von Juckreiz betroffen. Für sie ist es eine gute Nachricht, dass es seit Oktober erstmals einen zugelassenen Arzneistoff auf dem Markt gibt.
Es sind vermutliche verschiedene Faktoren, die eine Rolle bei der Entstehung von Juckreiz im Zusammenhang mit chronischer Nierenerkrankung spielen. Dazu gehören auch eine systemische Entzündung und ein Ungleichgewicht des endogenen Opioidsystems, etwa ein Überexpression der µ-Opioidrezeptoren und eine gleichzeitige Herabregulierung der k-Rezeptoren. Opioidrezeptoren sind dafür bekannt, dass sie Juckreizsignale und den Entzündungsprozess modulieren, wobei eine Aktivierung der k-Opioidrezeptoren den Juckreiz reduziert und immunmodulatorische Effekte auslöst. Difelikefalinist ein selektiver Agonist an k-Rezeptoren. Dadurch lässt sich seine juckreizlindernde und entzündungshemmende Wirkung erklären. Ins zentrale Nervensystem gelangt der Wirkstoff dabei nicht.
Kapruvia wird nach der Hämodialyse als Injektion in die Vene verabreicht. Es wird dreimal wöchentlich verabreicht, und die Dosis hängt vom Gewicht des Patienten ab. Die empfohlene Dosis sind 0,5 µg/kg »Trockengewicht«, das heißt Zielgewicht nach der Dialyse.
Die häufigsten Nebenwirkungen sind Somnolenz und Parästhesien. Aus Vorsichtsgründen sollte Difelikefalin nicht bei Schwangeren zum Einsatz kommen und in der Stillzeit muss entschieden werden, ob die Frau abstillt oder die Behandlung mit Kapruvia unterbrochen wird.
Der zweite Neuling aus dem Bereich »Niere« – und »Herz« - ist Finerenon (Kerendia®, Bayer). Er kann zur Behandlung der chronischen Nierenerkrankung (CKD) im Stadium 3 und 4 mit Albuminurie bei Erwachsenen mit Typ-2-Diabetes verordnet werden. CKD ist eine häufige Komplikation bei Diabetes und zugleich ein unabhängiger Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Trotz derzeit verfügbarer Behandlungsmöglichkeiten kommt es bei vielen Patienten mit CKD und Typ-2-Diabetes zu Nierenversagen oder vorzeitigem Tod. Es wird angenommen, dass bei Typ-2-Diabetes eine Überaktivierung des Mineralocorticoid-Rezeptors zum Fortschreiten einer CKD sowie zu kardiovaskulären Schäden beiträgt.
Finerenon ist wie die altbekannten Substanzen Spironolacton und Eplerenon ein Antagonist am Mineralocorticoid-Rezeptor, geläufig ist auch die Bezeichnung Aldosteron-Antagonist. Ein wichtiger Unterschied: Anders als Spironolacton und Eplerenon ist Finerenon ein nicht-steroidaler Antagonist an diesem Rezeptor. Daher hat der neue Wirkstoff auch andere Eigenschaften, etwa hinsichtlich Selektivität und Potenz. Durch Blockade des Rezeptors kann dieser nicht mehr durch Aldosteron und Cortisol überaktiviert werden, sodass unerwünschte über inflammatorische und fibrotische Signalwege vermittelte renale und kardiovaskuläre Ereignisse verhindert werden können.
Die empfohlene Dosis sind 20 mg Finerenon einmal täglich. Gegebenenfalls wird die Dosis abhängig von der Nierenfunktion und dem Kaliumspiegel reduziert. Vor Therapiestart und auch danach sollte der Arzt den Kaliumspiegel und die Nierenfunktion im Blick behalten. Bei einem zu hohen Kaliumspiegel darf die Therapie mit Kerendia nicht begonnen werden. Auch bei schwer gestörter Leber- oder Nierenfunktion wird dies nicht empfohlen.
Bei einer Therapie mit Finerenon müssen Wechselwirkungen geprüft werden. / Foto: Adobe Stock/Rasi
Auch ein Blick in die Begleitmedikation ist wichtig. Finerenon sollte nicht mit kaliumsparenden Diuretika wie Amilorid und Triamteren sowie mit anderen Mineralocorticoid-Rezeptorantagonisten eingenommen werden. Bei Patienten, die Kaliumergänzungsmittel, Trimethoprim oder Trimethoprim/Sulfamethoxazol einnehmen, ist eine zusätzliche Überwachung des Kaliumwertes sowie die Anpassung der Überwachung auf Basis der Patientencharakteristika zu erwägen, heißt es in der Kerendia-Fachinformation. Dies gilt auch bei gleichzeitiger Gabe von schwachen oder moderaten CYP3A4-Hemmern. Sogar kontraindiziert ist die gleichzeitige Behandlung mit starken CYP3A4-Inhibitoren. Auch Grapefruits und deren Saft sollten wegen der CYP3A4-Hemmung während der Behandlung nicht verzehrt werden. Andersherum werden starke oder moderate CYP3A4-Induktoren nicht empfohlen, da sie die Wirksamkeit von Finereon abschwächen können.
Sehr häufig führt Finerenon zur Hyperkaliämie, häufig sind zum Beispiel Hypotonie, Juckreiz und Hyponatriämie. Eine weitere Kontraindikation ist das Vorliegen eines Morbus Addison.
Frauen im gebärfähigen Alter müssen während der Behandlung mit Finerenon eine zuverlässige Verhütungsmethode anwenden. Tierexperimentelle Studien haben eine Reproduktionstoxizität gezeigt. Kerendia darf während der Schwangerschaft nicht angewendet werden, es sei denn, eine Behandlung mit dem neuen Wirkstoff ist aufgrund des klinischen Zustandes der Frau erforderlich. In der Stillzeit muss eine Entscheidung darüber getroffen werden, ob das Stillen zu unterbrechen ist oder ob die Behandlung unterbrochen beziehungsweise beendet werden soll.
Fast alle Patienten mit chronisch myeloischer Leukämie (CML) weisen ein sogenanntes Philadelphia-Chromosom auf. Das ist eine Verkürzung des Chromosoms 22, die durch Austausch der Enden der Chromosomen 9 und 22 entsteht. Es entsteht dabei das Hybridgen Bcr-Abl, das für das dauerhaft aktivierte Fusionsprotein BCR-ABL codiert. Das normale ABL-Protein ist eine Kinase, die Funktionen in der Signaltransduktion übernimmt. Durch den zusätzlichen BCR-Teil wird sie dermaßen verändert, dass sie nicht mehr reguliert werden kann, sondern ständig aktiv bleibt. Die erhöhte Tyrosinkinase-Aktivität führt zur chronischen Phase der CML. Anfang des Jahrtausends wurde mit Imatinib der erste Kinasehemmer überhaupt eingeführt. Er und weitere Kinasehemmer mit der Zielstruktur BCR-ABL haben die CML-Therapie mittlerweile revolutioniert.
Mit Asciminib (Scemblix®, Novartis) kam nun ein weiterer Kinasehemmer zur Behandlung erwachsener Patienten mit Philadelphia-Chromosom-positiver CML in der chronischen Phase auf den Markt. Er kommt allerdings nur dann infrage, wenn die Patienten mit mindestens zwei anderen Kinasehemmern vorbehandelt sind.
Auch Asciminib hat die BCR-ABL-Kinase als Ziel. Dennoch gibt es einen Unterschied zu den älteren Substanzen. Denn der Neuling greift an einer anderen Stelle des Enzyms an: nicht an der ATP-Bindungsstelle, sondern an der sogenannten Myristoyl-Bindungstasche. Das führt zu einer Konformationsänderung und dazu, dass das aktive Zentrum der Kinase so modifiziert wird, dass es seine Funktion verliert. In Zusammenhang mit Asciminib fällt häufig auch die Bezeichnung STAMP-Hemmer. STAMP ist die Abkürzung für Specifically Targeting the ABL1 Myristoyl Pocket. Asciminib ist der erste STAMP-Hemmer auf dem deutschen Markt.
Bei fast allen CML-Patienten sind die Enden der Chromosomen 9 und 22 ausgetauscht. / Foto: Getty Images/Kateryna Kon
Der Wirkstoff wird oral eingenommen. Empfohlen sind 40 mg zweimal täglich im Abstand von zwölf Stunden. Beim Auftreten von Nebenwirkungen wird die Dosis unter Umständen angepasst. Die Filmtabletten sollte der Patient außerhalb der Mahlzeiten einnehmen. Mindestens zwei Stunden vor und eine Stunde nach der Einnahme sollte er eine Nahrungsaufnahme vermeiden.
Sehr häufige Nebenwirkungen sind zum Beispiel muskuloskelettale Schmerzen, Infektionen der oberen Atemwege, Thrombozytopenie, Fatigue, Kopfschmerzen, Arthralgie, erhöhte Pankreasenzyme, Abdominalschmerz, Diarrhö und Übelkeit.
In der Fachinformation von Scemblix finden sich verschiedene Warnhinweise. Wegen einer möglichen Myelosuppression sollte der Arzt regelmäßig ein Blutbild machen lassen, wegen der Möglichkeit von toxischen Effekten auf die Bauchspeicheldrüse sollten deren Enzyme im Blick behalten werden und aufgrund eines potenziellen Anstiegs des Blutdrucks gilt es auch, diesen zu überwachen. Zudem kann es durch Asciminib zur Verlängerung der QT-Zeit am Herzen kommen. Auch dies sollte der Arzt bedenken und vorsichtig sein, wenn er den neuen Arzneistoff mit Substanzen kombiniert, die mit einem erhöhten Risiko für Torsade-de-pointes-Tachykardie einhergehen. Hinsichtlich möglicher Wechselwirkungen sind auch starke CYP3A4-Induktoren zu nennen, die zu einer reduzierten Wirksamkeit des Krebsmittels führen können.
Sexuell aktive Frauen im gebärfähigen Alter sollten während der Behandlung mit Asciminib und für mindestens drei Tage nach Behandlungsende eine zuverlässige Verhütungsmethode anwenden. Die Anwendung während der Schwangerschaft und bei Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht verhüten, wird nicht empfohlen. Aufgrund möglicher schwerwiegender Nebenwirkungen beim gestillten Kind sollte während der Behandlung und für mindestens drei Tage nach dem Ende der Behandlung mit Asciminib nicht gestillt werden.
Mit Selinexor (Nexpovio®, Stemline) steht ein weiterer Arzneistoff für die Behandlung des Multiplen Myeloms zur Verfügung. Er weist ein neues Wirkprinzip auf. Selinexor blockiert das Protein Exportin 1 (XPO1), das beim Transport von Molekülen aus dem Zellkern von Bedeutung ist. Mithilfe von XPO1 verteidigen sich Tumorzellen gegen Tumorsuppressor-Proteine, die in den Zellkern der Krebszelle eingedrungen sind und dort den Zelltod fördern sollen. XP01 bindet an diese Proteine, entsorgt sie aus dem Zellkern der Krebszelle und sichert damit deren Überleben. Selinexor verhindert das, indem es XPO1 blockiert. Die Substanz stellt sozusagen die Fähigkeit zur Selbstkontrolle wieder her.
Zugelassen ist Nexpovio in Kombination mit Dexamethason für die Behandlung von Erwachsenen, die zuvor mindestens vier Therapien erhalten haben. In Kombination mit Dexamethason und Bortezomib darf es zudem in der Zweitlinientherapie angewendet werden.
Patienten nehmen Selinexor einmal wöchentlich ein, wenn es in Kombination mit Bortezomib und Dexamethason gegeben wird. Die empfohlene Dosis sind 100 mg. Wird nur mit Dexamethason kombiniert, wird Selinexor an den Tagen 1 und 3 jeder Woche eingenommen. Dafür werden jeweils 80 mg Wirkstoff empfohlen. Aufgrund von Nebenwirkungen muss die Dosierung gegebenenfalls reduziert werden oder die Gabe unterbrochen werden. Details dazu finden sich in der Fachinformation von Nexpovio.
Die Liste möglicher Nebenwirkungen ist leider lang. Sehr häufig sind zum Beispiel Thrombozytopenie, Übelkeit, Müdigkeit, Anämie, verminderter Appetit und Durchfall. In der Fachinformation wird daher auch darauf hingewiesen, dass die Patienten eine angemessene Flüssigkeits- und Kalorienzufuhr aufrechterhalten sollten und vor sowie während der Behandlung mit Selinexor eine prophylaktische Gabe mit einem 5-HT3-Antagonisten und/oder anderen Antiemetika vorzusehen ist. Grundsätzlich muss der Arzt regelmäßig ein Blutbild erstellen und die Patienten auf Anzeichen von Blutungen und Infektionen überwachen.
Frauen im gebärfähigen Alter sollten angewiesen werden, während der Behandlung und für mindestens eine Woche nach der letzten Dosis eine Schwangerschaft zu vermeiden oder auf Geschlechtsverkehr zu verzichten. Frauen im gebärfähigen Alter und männlichen zeugungsfähigen Patienten ist zu raten, während der Behandlung und mindestens eine Woche nach der letzten Dosis wirksame empfängnisverhütende Maßnahmen zu ergreifen oder auf sexuelle Aktivitäten zu verzichten, um eine Schwangerschaft zu verhindern.
Die Anwendung von Selinexor während der Schwangerschaft und bei Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht verhüten, wird nicht empfohlen. Das Stillen sollte während der Behandlung und für eine Woche nach der letzten Dosis unterbrochen werden.
Der fünfte Neuling ist Olipudase alfa (Xenpozyme®, Sanofi Genzyme), eine Enzymersatztherapie. Sie hilft Menschen, die an der Niemann-Pick-Krankheit (Acid Sphingomyelinase Deficiency, ASMD) leiden. Bei dieser Erkrankung weist das Enzym saure Sphingomyelinase (ASM) eine zu geringe Aktivität auf. Sphingomyelin wird deswegen nur unzureichend verstoffwechselt, was eine Anhäufung im Körper und Schäden an verschiedenen Organen verursachen kann. Zu den Symptomen der ASMD gehören unter anderem eine vergrößerte Milz oder Leber, Atembeschwerden, Lungeninfektionen und ungewöhnliche Blutergüsse oder Blutungen. Die bisherige Behandlung der Krankheit besteht aus unterstützenden, symptomatischen Maßnahmen.
Olipudase alfa ist die erste Enzymersatztherapie zur ASMD-Behandlung. Zugelassen ist sie bei pädiatrischen und erwachsenen Patienten mit ASMD Typ A/B oder ASMD Typ B ohne zentralnervöse Beteiligung. Denn die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann Olipudase alfa nicht. Ferner wichtig: Bei Patienten mit ASMD Typ A wurde Olipudase alfa nicht untersucht.
Verabreicht wird Xenpozyme alle zwei Wochen als intravenöse Infusion. Die empfohlene Anfangsdosis bei Erwachsenen beträgt 0,1 mg/kg Körpergewicht (KG), bei Kindern 0,03 mg/ kg KG. Danach wird die Dosis über mehrere Wochen langsam erhöht. Die empfohlene Erhaltungsdosis von Xenpozyme beträgt in beiden Gruppen 3 mg/kg KG alle zwei Wochen. Bei Personen mit einem Body-Mass-Index größer 30 wird das optimale Körpergewicht zugrunde gelegt.
Während der Infusion sollte auf Anzeichen und Symptome einer Überempfindlichkeitsreaktion geachtet werden. Vor Einleiten der Therapie und in der Dosissteigerungsphase sind die Transaminase-Werte zu überwachen.
Zu den sehr häufig beobachteten Nebenwirkungen zählen Kopfschmerzen, Fieber, Urtikaria, Übelkeit, Erbrechen, Abdominalschmerzen, Muskelschmerz und Juckreiz.
Die Anwendung von Xenpozyme während der Schwangerschaft und bei Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht verhüten, wird nicht empfohlen, es sei denn, der mögliche Nutzen für die Mutter überwiegt die möglichen Risiken, einschließlich derer für das ungeborene Kind. Bei Stillenden muss eine Entscheidung darüber getroffen werden, ob das Stillen oder die Behandlung zu unterbrechen ist.
Xenpozyme wird im Kühlschrank bei 2 bis 8 Grad Celsius gelagert.