Schmerz als Dauerzustand |
Wird der Zusammenhang zwischen Schmerz und Psyche erkannt, ist es leichter, den chronischen Schmerz in den Griff zu bekommen. / Foto: Fotolia/fizkes
Nach Angaben der Deutschen Schmerzgesellschaft e. V. leiden etwa 23 Millionen Menschen in Deutschland regelmäßig unter Schmerzen. Sechs Millionen fühlen sich von chronischen Schmerzen in ihrem Alltag beeinträchtigt, bei 2,2 Millionen hat sich der Schmerz zu einem komplexen, psychosozialen Krankheitsbild entwickelt, dessen auslösende Ursache häufig nicht mehr nachweisbar ist.
Schmerz ist laut der Definition der International Association for the Study of Pain zunächst einmal nichts anderes als ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird. Er fungiert als Warnsignal, auf das alle höher entwickelten Tiere, inklusive des Menschen, unmittelbar reagieren. Schonverhalten und Ruhe unterstützen das Ab- und Ausheilen akuter Verletzungen und Entzündungen, der Schmerz lässt nach.
Bestehen Schmerzen länger als drei bis sechs Monate oder treten sie über diesen Zeitraum immer wieder auf, sprechen Mediziner von chronischen Schmerzen. Im Gegensatz zum Akutschmerz haben chronische Schmerzen ihre Warnfunktion verloren. Sie stellen ein eigenes Krankheitsbild dar, an dem, neben der biologischen Komponente, psychische und soziale Faktoren beteiligt sind. Den Betroffenen sind diese Zusammenhänge kaum bis gar nicht bewusst. Sie reagieren auf den Schmerz als Warnsignal. Möglicherweise ist die Verletzung doch größer als ursprünglich angenommen? Vielleicht steckt eine schwere Erkrankung hinter der Symptomatik?
Erste Anlaufstelle ist nun meist der Hausarzt, häufig folgen fachärztliche Begutachtungen. Kann selbst mit umfassenden Untersuchungen keine Ursache für die Schmerzen gefunden werden, sind Betroffene verunsichert, mitunter auch verärgert. Einige suchen neue Ärzte auf, andere fühlen sich als Simulant abgestempelt, was durch Reaktionen des sozialen Umfeldes verstärkt werden kann. Starke Stimmungsverschlechterung, erhöhte Reizbarkeit, Schlafstörungen und reduzierte Konzentrationsfähigkeit sind nun häufige Begleiterscheinungen.
Was viele Menschen nicht wissen: Negativer Dauerstress gilt bei Schmerzmedizinern als anerkannter Schmerzauslöser. Stress kann sogar extrem starke Schmerzen erzeugen, ohne dass eine nachweisbare Verletzung oder Entzündung im Körper vorliegt. Ausgelöst werden die stressbedingten Schmerzen durch Muskelverspannungen. Wer unter Stress steht, spannt alle Muskeln an, ohne die Anspannung bewusst wahrzunehmen. Dauerhafte Anspannung wirkt sich negativ auf die Muskeln aus. Sie verkürzen und verhärten, was wiederum Sehnen, Bindegewebe und Knochenhäute in Mitleidenschaft zieht. Betroffene fühlen sich dauerhaft verspannt, das erschöpft und erzeugt im weiteren Verlauf Schmerzen in Muskeln und Sehnenansätzen, der Knochenhaut oder im Bindegewebe.
Nun beginnt ein Teufelskreis. Schmerzen verstärken bestehende Muskelverspannungen, Bewegungseinschränkungen werden größer, Schonhaltung und Bewegungsvermeidung begünstigen neue Verspannungen, die Schmerzen verstärken sich. Dazu kommt die psychische Komponente. Schmerzen und Einschränkungen, die nicht verstanden werden, lösen Ängste aus. Kann wiederholt keine Ursache gefunden werden, kommen Mutlosigkeit oder Ärger hinzu. Diese negativen Gefühle erhöhen den Stress und verfestigen so den fatalen Kreislauf aus Stress, Verspannung und Schmerz.
Ein weiteres Problem chronischer Schmerzen: Sie können die Empfindlichkeit des schmerzleitenden und schmerzverarbeitenden Systems stark erhöhen. Bei einigen Betroffenen reichen nun bereits leichte Reize wie sanfte Berührungen oder Wärme, um Schmerzen zu empfinden. Dies kann sich so weit steigern, dass die überempfindlichen Nervenzellen auch ohne Reizung Schmerzen erfassen.
Stressbedingte Schmerzen können – ähnlich wie das Burnout-Syndrom – als ein deutlicher körperlicher Hinweis auf eine andauernde oder wiederkehrende negative Überlastung verstanden werden. Dazu gehören zum Beispiel längere Phasen zurückgehaltener Trauer, überspielte Wut nach Kränkungen, Konflikte in Ehe, Familie und Beruf, ständige Über- oder Unterforderung im Berufsleben, Mehrfachbelastungen durch Kinder, Beruf, Haushalt oder Pflege.
Neben aktuellen Stresssituationen können aber auch weit zurückliegende Lebensereignisse Einfluss auf die Stress- und Schmerzempfindlichkeit haben. Aus Studien ist bekannt, dass eine psychosoziale Traumatisierung in der Kindheit das Risiko für das Auftreten eines chronischen Schmerzsyndroms im Erwachsenenalter um das zweieinhalb- bis vierfache erhöht. Hier reichen mitunter einzelne Stresserfahrungen im Erwachsenenalter aus, um ein massives und für die Betroffenen unerklärliches Schmerzsyndrom auszulösen.
Möglich wird dies, da die Stress und Schmerz verarbeitenden Strukturen im Gehirn eng miteinander verknüpft sind. Kinder, die Gewalt oder Traumatisierung ausgesetzt sind, erleben einen immensen inneren und äußeren Stress. Der dadurch ausgelöste hohe Cortisolspiegel prägt das sich entwickelnde Gehirn und führt zu Veränderungen in den Stress und Schmerz verarbeitenden Strukturen. Sie sind weniger gut in der Lage, mit Stress umzugehen und ihn zu bewältigen. Sie reagieren stattdessen mit Erschöpfung und Schmerzen.
Die Zusammenhänge zwischen Stress und Schmerzen sind den meisten Betroffenen und auch vielen Ärzten nicht bekannt. Die Zeitspanne, bis Patienten mit stressbedingten Schmerzen die richtige Behandlung erhalten, ist entsprechend lang. Im Durschnitt vergehen nach Angaben der Deutschen Schmerzgesellschaft sieben Jahre. In dieser Zeit kann es mitunter vorkommen, dass tiefgreifende Behandlungen wie Operationen durchgeführt werden, die keinerlei Verbesserung in der Symptomatik bringen.
Weit effektiver hingegen ist die multimodale Schmerztherapie. Sie vereint Bewegungstherapie, Entspannungstrainings und Psychotherapie zu einem für jeden Betroffenen individuellen Konzept. Bei stressbedingten Schmerzen liegt ein klarer Fokus auf aktiver Bewegung in Form von Sport, Physio- oder Bewegungstherapie. Denn anders als bei akuten Schmerzen, bei denen körperliche Schonung für einen gewissen Zeitraum notwendig ist und den Heilungsprozess unterstützt, führt sie bei stressbedingten Schmerzen zu einer Verfestigung oder Ausbreitung der Symptomatik auf andere Körperbereiche.
Ergänzend helfen Entspannungsmethoden wie die Progressive Muskelentspannung, angespannte und verspannte Muskulatur aktiv wahrzunehmen und aktiv zu entspannen. Je nach Symptomatik kann eine Psychotherapie helfen, problematische Verhaltensmuster aufzudecken und neue Strategien im Umgang mit ihnen zu erlernen. Im Bedarfsfall können alle nicht medikamentösen Maßnahmen durch medikamentöse ergänzt werden, in der Regel sind sie bei stressinduzierten Schmerzen jedoch nicht indiziert.
Den richtigen Ansprechpartner zu finden, ist für Schmerzpatienten nicht immer einfach. Eine Facharztausbildung zum Schmerzmediziner gibt es derzeit nicht. Die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin e. V. (DGS) organisiert und zertifiziert deshalb im gesamten Bundesgebiet regionale DGS-Schmerzzentren, mit denen eine leitliniengerechte Versorgung von Schmerzpatienten gesichert werden soll. Die beteiligten Mediziner stammen oft aus der Allgemeinmedizin, aber auch aus der Anästhesiologie oder Orthopädie, und sind schmerzmedizinisch weitergebildet. Wohnortnahe Zentren können über die Website der DGS gefunden werden. In ausgeprägten Fällen kann auch der Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik sinnvoll sein.