Schmerzmittel könnten Risiko für chronische Rückenschmerzen erhöhen |
Annette Rößler |
18.05.2022 16:00 Uhr |
Obwohl Entzündungshemmer Patienten mit Rückenschmerzen kurzfristig helfen, könnten sie langfristig kontraproduktiv wirken. / Foto: Getty Images/Fizkes
Rückenschmerzen können akut, subakut oder chronisch sein. Laut Nationaler Versorgungsleitlinie »Nicht spezifischer Kreuzschmerz« sind unter akuten Beschwerden neu aufgetretene Schmerzepisoden zu verstehen, die weniger als sechs Wochen anhalten. Bei einer Dauer von mehr als als sechs, aber weniger als zwölf Wochen ist von subakuten Kreuzschmerzen die Rede, bei noch längerer Schmerzdauer von chronischen.
Wichtiger als diese rein zeitliche Einteilung ist, dass sich beim Übergang von einem akuten zu einem chronischen Schmerz auch pathophysiologisch etwas ändert, aber was genau und wie, ist momentan noch nicht gut verstanden. Wissenschaftler um Dr. Marc Parisien von der McGill University in Montreal, Kanada, haben diese Vorgänge nun sehr aufwendig und genau untersucht – und dabei Entdeckungen gemacht, die sie selbst überraschten. Über ihre Erkenntnisse berichten sie aktuell im Fachjournal »Science Translational Medicine«.
Für ihre Untersuchung nutzten die Forscher eine Methode zur Bestimmung des sogenannten Transkriptoms in peripheren Immunzellen. Unter dem Transkriptom versteht man die Gesamtheit aller Gene einer Zelle, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von DNA in RNA transkribiert werden. Diese Gene sind aktiv, die anderen nicht. Auf diese Weise kann man erkennen, ob etwa bestimmte Signalwege in der Zelle zum Untersuchungszeitpunkt überhaupt aktiv sind.
Teilnehmer der Studie waren 98 Patienten mit Schmerzen im unteren Rücken, die drei Monate lang beobachtet wurden. Bei der Hälfte der Probanden verschwanden die Rückenschmerzen in dieser Zeit, bei der anderen Hälfte nicht. Bei denjenigen, die am Ende beschwerdefrei waren, ergab die Transkriptomanalyse im Untersuchungszeitraum Tausende kleiner Änderungen; sehr viele Gene wurden also während des Heilungsprozesses an- beziehungsweise abgeschaltet. Bei den Patienten mit chronischen Rückenschmerzen waren die Transkriptome dagegen statisch und es gab während der beobachteten drei Monate keinerlei Veränderung.
Als Ursache für diesen gravierenden Unterschied machten die Forscher eine vorübergehende Aktivierung von inflammatorischen Signalwegen aus, die von bestimmten Immunzellen (Neutrophilen Granulozyten) getriggert wurde. Dieser Vorgang schützte offenbar die Patienten, deren Schmerzen innerhalb kürzerer Zeit wieder verschwanden, vor einer Chronifizierung.
Im Mausmodell untersuchte die Gruppe daraufhin, ob die Gabe von Entzündungshemmern das womöglich verhindert. Und siehe da: Mäuse, die zu Beginn eines schmerzhaften Prozesses mit dem Corticosteroid Dexamethason oder dem NSAR Diclofenac – beides Arzneistoffe mit antientzündlicher Wirkkomponente – behandelt wurden, zeigten trotz eines kurzfristigen analgetischen Effekts über einen deutlich längeren Zeitraum Schmerzen als Mäuse, die lediglich Kochsalzinjektionen erhalten hatten. Die Gabe von Gabapentin, Morphin oder Lidocain als Schmerzmittel ohne antiphlogistische Wirkung linderte dagegen akut den Schmerz, ohne gleichzeitig zu einer Verlängerung des Schmerzzustandes der Mäuse zu führen. Wurden Neutrophile Granulozyten aus dem Blut der Mäuse entfernt, verzögerte das die Besserung des Schmerzes; dagegen verhinderte die Gabe dieser Immunzellen oder von bestimmten Proteinen, die von ihnen freigesetzt werden, die durch Entzündungshemmer ausgelöste Chronifizierung der Schmerzen.
Zuletzt werteten die Forscher noch die Verläufe von Patienten mit zunächst akutem Rückenschmerz aus, die in der biomedizinischen Datenbank UK Biobank gespeichert sind. Retrospektiv konnten sie dabei feststellen, dass die Einnahme von NSAR mit einem erhöhten Risiko für eine längere Dauer der Schmerzen einherging. Patienten, die gegen die akuten Schmerzen NSAR einnahmen, hatten verglichen mit Patienten, die das nicht taten, ein 1,76-fach höheres Risiko für eine Chronifizierung. Die Anwendung von Paracetamol oder Antidepressiva hatte diesen Effekt nicht.
Obwohl Entzündungshemmer Patienten mit Rückenschmerzen kurzfristig helfen, könnten sie langfristig kontraproduktiv wirken, lautet daher das Fazit der Autoren. Das ist eine ziemlich weitreichende Aussage, denn auch wenn sie laut Leitlinie nur in der niedrigsten wirksamen Dosierung und so kurzzeitig wie möglich angewendet werden sollen, zählen NSAR zu den Standardmedikamenten bei Rückenschmerzen. Paracetamol, das laut dieser Studie vorteilhaft wäre, sollte dagegen leitliniengemäß wegen nicht ausreichend belegter Wirksamkeit nicht eingesetzt werden.
»Was wir hier sagen, ist ziemlich radikal«, räumt denn auch Professor Dr. Jeffrey Mogil, einer der Seniorautoren der Publikation, gegenüber der Nachrichtenseite »STAT« ein. Das renommierte »New England Journal of Medicine« habe die Veröffentlichung der Studie sogar abgelehnt, obwohl die meisten Reviewer dafür waren. Einer der Gutachter habe jedoch geschrieben, er werde nicht »eine jahrzehntelang geübte medizinische Praxis über den Haufen werfen«, bevor die Autorengruppe überzeugendere Evidenz aus einer randomisierten, placebokontrollierten Studie präsentiere.
»Diese Arbeit bedeutet einen Paradigmenwechsel«, sagte Dr. Thomas Buchheit, Schmerzspezialist an der Duke University in Durham, der nicht an der Studie beteiligt war, gegenüber STAT. Schließlich habe man jahrelang »alles, was wehtut, mit Steroidinjektionen oder einem Entzündungshemmer behandelt«.
»Die Studie ist tatsächlich beeindruckend. Die Eindeutigkeit der Ergebnisse ist sogar spektakulär«, sagte Professor Dr. Hans-Hartmut Peter, emeritierter Direktor des Centrums für chronische Immundefizienz am Universitätsklinikum Freiburg und Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), der Zeitung »Die Welt«. Bislang liefere sie allerdings nicht mehr als Laborindizien, die in einer oder mehreren größeren Studien mit Patienten überprüft werden müssten. »Bis dahin gilt auch nach dieser Studie: Die NSAR haben einen solchen Stellenwert in der Medizin, dass ich und meine Kollegen nur sehr schwer auf sie verzichten können«, so Peter.