Selbstverletzungen – welche Rolle spielt das Internet? |
Das Internet ist Fluch und Segen – es kann zum einen dazu führen, in negativen Emotionen zu versinken, zum anderen aber auch einen einfachen Zugang zu Hilfsangeboten bieten. / © Getty Images/Drazen Zigic
Lange Zeit hat sich Melanie Weymer nicht getraut, ihre Arme in der Öffentlichkeit zu zeigen. Selbst an heißen Tagen versteckte sie diese unter langer Kleidung. Dieser Sommer war der erste seit vielen Jahren, in dem sie im T-Shirt zur Arbeit gegangen ist oder in ihrer Freizeit Tops getragen hat. Dass Leute sie wegen der vielen Narben anstarren, kann sie inzwischen aushalten.
»Ich wäre nur dankbar, wenn sie mich fragen würden, was da passiert ist.« Die Arme der 31-Jährigen sind bedeckt von Narben. Sie alle zeugen von tiefen Schnitten mit Rasierklingen, die sich Weymer selbst zugefügt hat. Die junge Frau aus Nürnberg hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung – eine psychische Erkrankung, bei der Betroffene unter starken Gefühls- und Stimmungsschwankungen leiden. Viele Betroffene verletzen sich selbst, um die innere Anspannung zu verringern.
»Ich konnte nicht anders«, sagt Weymer rückblickend. Doch danach habe sie sich immer über sich selbst geärgert und unter Selbstvorwürfen gelitten.
Nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) nennen Fachleute es, wenn sich Menschen absichtlich verletzen. Manche tun das einmal, manche immer wieder. Nicht immer steht eine Borderline-Störung dahinter. »Selbstverletzung ist primär Ausdruck von starkem emotionalem Leid oder Druck – und das kann natürlich im Rahmen fast jeder psychischen Erkrankung entstehen«, erläutert Michael Kaess, Direktor der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Bern. Zum Beispiel auch bei Depressionen oder Schizophrenie.
Betroffen seien vor allem Jugendliche, sagt Kaess. Aktuelle Zahlen liefert eine im August im Fachjournal »European Child & Adolescent Psychiatry« veröffentlichte Untersuchung unter rund 9500 Schülerinnen und Schülern in Deutschland, an der Kaess beteiligt war. Darin gaben fast 18 Prozent an, bereits Erfahrungen mit Selbstverletzungen gemacht zu haben.
Seit der Corona-Pandemie sei eine Zunahme zu beobachten, sagt Kaess. »Ein möglicher Treiber sind die sozialen Netzwerke.« Wer öfter Inhalte zu Themen wie Traurigkeit oder Krise anklicke, bekomme immer mehr davon angeboten und gelange dann auch zu Inhalten, die sich mit Selbstverletzungen und Suizid beschäftigten.