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Die »Waisen der Medizin«

Seltene Erkrankungen in der Summe häufiger als gedacht

Am letzten Tag im Februar findet jedes Jahr weltweit der »Rare Disease Day« statt, der Tag der seltenen Erkrankungen. Er soll auf die »Waisen der Medizin« aufmerksam machen, die – anders als die Bezeichnung vermuten lässt – in Summe häufiger sind als gedacht.
Hanke Huber
27.02.2024  08:30 Uhr

Eine Krankheit gilt als selten, wenn sie bei maximal 1 von 2000 Menschen vorkommt. Experten gehen davon aus, dass in Deutschland mehr als 4 Millionen Menschen von seltenen Krankheiten betroffen sind. In der gesamten Europäischen Union sind es schätzungsweise 30 Millionen. Aufgrund der Seltenheit fehlen oft Erfahrungen mit der jeweiligen Krankheit, die auf Englisch »orphan diseases« genannt werden. Der Weg zur Diagnose kann viele Jahre dauern. Typisch für viele dieser Krankheiten ist, dass die Symptome oft unspezifisch sind und nicht nur ein, sondern mehrere Organsysteme betreffen. Die Erkrankungen äußern sich bei etwa 70 Prozent der Betroffenen bereits im Kindes- und Jugendalter. Meist sind sie schwerwiegend, chronisch und schreiten progredient fort. Bei etwa 80 Prozent liegt eine erbliche Komponente zugrunde, sodass Symptome häufig auch bei Angehörigen auftreten.

»Die meisten Patientinnen und Patienten, die zu uns kommen, haben bereits zahlreiche Arztbesuche und viele Krankenhausaufenthalte hinter sich gebracht«, sagt Professor Dr. Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZusE) des Universitätsklinikums Marburg, im Gespräch mit PTA-Forum. »Leider ist auch die Wartezeit bei uns sehr lang, da wir als kleines Zentrum eine Vielzahl von Anfragen sehr intensiv und akribisch beantworten müssen. Das braucht einfach Zeit und führt leider zu langen Wartezeiten.«

Vorlesung mit »Dr. House«

Das Marburger Zentrum ist eines von mittlerweile 37 bundesdeutschen Zentren für seltene Erkrankungen. Seine Entstehung war recht ungewöhnlich, berichtet Internist Schäfer. »Letztlich begann es mit einer Vorlesungsreihe für Marburger Medizinstudierende zum Thema ›Seltene Krankheiten‹. Ich benutzte die beliebte Fernsehserie ›Dr. House‹ quasi als Türöffner, um die jungen Leute für seltene Erkrankungen und Strategien zur Diagnosefindung zu begeistern und in den Hörsaal zu locken.« In der Serie sucht Dr. House, ein genialer Mediziner, aber menschlich schwieriger Charakter, die richtige Diagnose für schwer erkrankte Patienten. Meist geht es um Leben und Tod. »Das Format kam bei den Studierenden sehr gut an. Auch bei der Presse, als sie darauf aufmerksam wurde, und ich bekam den etwas zweifelhaften Titel des ›deutschen Dr. House‹.«

Nachdem die Marburger Ärzte einige spektakuläre Fälle wie eine Kobaltvergiftung durch eine Hüftprothese, eine tropische Erkrankung durch das heimische Aquarium oder eine neuartige Ionenkanal-Erkrankung auflösen konnten, die auch internationale Journale publizierten, seien sie von Anfragen verzweifelter Menschen regelrecht überrannt worden, berichtet Schäfer. Mit Unterstützung der Universitätsklinik wurde daraufhin das ZusE gegründet. »Der Schwerpunkt des ZusE ist die Diagnosefindung bei komplexen und seltenen Erkrankungen, bei denen andernorts keine belastbare Diagnose gestellt werden konnte.« Andere Zentren haben zum Teil spezielle Schwerpunkte. Ein Münchener Zentrum ist beispielsweise auf seltene Erkrankungen des Immunsystems spezialisiert. In Mainz gibt es ein Zentrum für seltene Erkrankungen des Nervensystems, an der Universität Erlangen das Zentrum für seltene Leber-, Pankreas- und Darmerkrankungen. Bei der enormen Zahl seltener Krankheiten – insgesamt 6000 bis 8000 – ist eine Spezialisierung auch sinnvoll.

Orphan Drugs

»Es ist in der Regel das akribische Nachfragen und Sichten von Befunden, das uns ans Ziel führt«, sagt Schäfer. »Wobei wir auch nicht immer eine Lösung finden. Und selbst wenn wir eine Diagnose haben, heißt das leider noch lange nicht, dass es dafür dann auch eine Therapie gibt. Die meisten seltenen Krankheiten kann man noch nicht heilen.« Symptome lassen sich nach der Diagnose aber möglicherweise besser behandeln und vielen helfe es auch, wenn ihr Leiden einen Namen hat.

Arzneimittel zur Behandlung seltener Erkrankungen werden Orphan Drugs genannt. Laut dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) zählt rund ein Drittel der Medikamente, die in den vergangenen fünf Jahren neu auf den Markt kamen, zu dieser Gruppe. Ihre Zulassungsbestimmungen unterscheiden sich nicht von Medikamenten, die einer Vielzahl von Menschen helfen. Um die Entwicklung von Orphan Drugs zu unterstützen, gibt es aber Sonderkonditionen für forschende Pharmaunternehmen. So entfallen etwa Gebühren für die Zulassung, und zugelassene Orphan Drugs bekommen zusätzlich zum Patentschutz zehn Jahre lang eine Marktexklusivität. Das heißt, sie sind vor Konkurrenz durch Wettbewerbspräparate geschützt – außer, die neuen Mittel sind wirksamer oder verträglicher als das entsprechende Orphan Drug.

Um einer Krankheit auf die Spur zu kommen, gehen Ärzte schrittweise vor. Schäfer bezeichnet das als Diagnose 1.0 bis 4.0. Am Anfang stehen die Anamnese und die körperliche Untersuchung, gefolgt von Untersuchungen mithilfe von Geräten, zum Beispiel EKG, Ultraschall oder MRT und der Labordiagnostik, von Blutwerten bis hin zu Genanalysen. Bei der Diagnose 4.0 kommt die moderne Computertechnologie ins Spiel, auch künstliche Intelligenz. »Damit erweitern sich unsere Möglichkeiten enorm.«

So gelingt es dem Marburger Ärzteteam nicht nur, seltene Erkrankungen sondern manchmal auch unerkannte Zusammenhänge aufzuspüren. Schäfer: »Wir hatten zum Beispiel einen Patienten, der wegen Diabetes mellitus mit Metformin behandelt wurde. Trotz der insgesamt guten Blutzuckerwerte entwickelte er eine schwere periphere Polyneuropathie. Dies wurde zunächst dem Diabetes zugeschrieben. Letztlich konnten wir aber zeigen, dass ein Vitamin-B12-Mangel die Ursache war, der sich dann gut behandeln ließ. Leider wird oft vergessen, dass die Einnahme von Metformin in seltenen Fällen auch zu einem Vitamin-B12-Mangel führen kann.«

Unterstützung durch KI

Alle seltenen Erkrankungen mit allen Symptomen zu kennen, ist unmöglich. »Hier brauchen wir die Unterstützung von moderner Computertechnologie und leistungsfähigen Suchmaschinen, noch nicht einmal zwingenderweise KI. Allerdings wird die KI uns bei der Diagnostik in absehbarer Zeit eine wertvolle Hilfe sein können. Wichtig ist für uns dabei, die Datenquelle zu kennen und zu wissen, dass der Datenschutz gewährleistet ist«, so Schäfer.

Und so führt die Detektivarbeit der Mediziner manchmal auch zur Entdeckung ganz neuer Krankheiten. »In der Tat finden wir – ebenso wie viele andere Zentren für seltene Erkrankungen – manchmal Krankheiten, die so in keinem Lehrbuch stehen. Es sind vor allem Mutationen in den regulativen Bereichen der Gene, die sogenannten Promotoren, die völlig neuartige Erkrankungen verursachen«, so der Marburger Arzt. Ein Beispiel, das im Fachjournal »Neurology Genetics« veröffentlicht wurde, sei der Fall eines Patienten mit jahrzehntelangen immer wiederkehrenden Lähmungen. »Die Kenntnis des Gendefekts verhalf uns zu einer recht erfolgreichen Therapie. Die Lähmungen traten in dieser Form nicht mehr auf«, beschreibt Schäfer das Ergebnis.

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