Egal ob »Last Christmas« oder »Oh Tannenbaum«: Wer singt, tut Körper und Geist viel Gutes. Dabei darf es ruhig auch mal laut und schief sein! / © Adobe Stock/Pixel-Shot
»Die Singstimme eines jeden Menschen ist wertvoll, selbst wenn sie nicht unbedingt ästhetischen Normen entspricht. Sie ist ein Instrument, mit der wir uns möglichst ein Leben lang ausdrücken können«, sagt Gunter Kreutz im Gespräch mit PTA-Forum. Er ist Professor für Systematische Musikwissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Autor des Buches »Warum Singen glücklich macht« (Psychosozial-Verlag, 4. Auflage 2023).
Seit es Menschen gibt, singen sie auch, setzen ihre Stimme also musikalisch ein. Die genauen Ursprünge von Sprache und Musikalität sind aber noch ungelöst. Möglicherweise haben sie sich gegenseitig in ihrer Entwicklung begünstigt. Der britische Anthropologe Stephen Mithen vermutet, dass sich mit dem aufrechten Gang die Anatomie von Kehlkopf und Rachenraum zu größerer Flexibilität und Resonanzraumbildung verändert und damit das menschliche Singen ermöglicht hat.
Zur ursprünglichen Motivation des Singens gibt es verschiedene Theorien: Singen stärkte womöglich den Zusammenhalt einer Gruppe und betonte ihre Besonderheiten, etwa Gesänge zu rhythmischen Tänzen, oder die Stimmung und Unterordnung der Krieger. Singen beruhigte von je her den Nachwuchs und sorgte für Entspannung im zuweil konkfliktreichen Familienleben. Jäger könnten Lockrufe von Vögeln imitiert haben, um sich ihnen unauffällig zu nähern. Oder Männer haben womöglich Vogelgesänge imitiert, um erfolgreicher um die Liebste zu werben, wobei Gesänge von Ur- und Naturvölkern vermutlich eher kriegerischer, heilender oder religiöser Natur waren.
»Singen ist weder ein Allheilmittel noch vollbringt es Wunder«, sagt Kreutz. Doch Singen bewirkt ihm zufolge eine Menge Gutes für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft. Wer selbst einmal gesungen hat, etwa im Chor, weiß, wie viel positive Energie der Gesang freisetzen kann. So ist Singen während des gesamten Lebens eine kostengünstige und einfach anzapfbare Kraftquelle, die Lebenssituationen und wichtige Entwicklungsschritte begleitet und unterstützt.
Kreutz rät: Eltern sollten regelmäßig mit ihren Kindern singen, auch mit Teenagern. Schon Babys lassen sich mit Musik, insbesondere mit Schlafliedern, beruhigen. Auch auf die Eltern kann das Vorsingen oder Hören solcher Lieder gefühlsregulierend wirken und die Beziehung zu ihrem Kind stärken.
Abhängig von Art, Lautstärke und der persönlichen Vorliebe kann Musik unseren Parasympathikus aktivieren, also etwa Herzschlagfrequenz und Blutdruck senken sowie das Schmerzempfinden herabsetzen. Sie kann Ängste abbauen, Schlafqualität, Laune sowie geistige Wachheit und Gedächtnisleistung verbessern. Manche Ärzte raten dazu, das Gehirn durch regelmäßiges Musikhören, Musizieren und/oder Singen fit zu halten. Auf molekularer Ebene kann Musik Neuromodulatoren samt ihrer Rezeptoren beeinflussen, die für Wohlbefinden und psychische Prozesse wichtig sind: Beta-Endorphin (körpereigenes Schmerzmittel, Euphorie), Oxytocin (Vertrauen und Bindung), Dopamin (Motivation und Belohnung) und wohl auch Serotonin (Stimmung, Ausgeglichenheit).
Forscher aus Australien haben das Therapeutic Music Capacities Model (TMCM) entwickelt. Es könnte als Grundlage dienen, Charakteristika von Musik wie Tonhöhe, Lautstärke, Klangfarbe und Rhythmus in der Therapie etwa bei der Neurorehabilitation bei Demenz, Parkinson-Krankheit, Schlaganfall und ADS (Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom) zu nutzen. Ziel ist es, Verbesserungen im Verhalten sowie im kognitiven, psychosozialen und motorischen Bereich der Betroffenen zu erreichen.
Die Forscher heben darin sieben Fähigkeiten von Musik hervor, die auf jeden von uns wirken:
Eine Literatursuche aus dem Jahr 2021 ergab, dass 29 deutsche medizinische Leitlinien aus dem AWMF-Register die Musiktherapie als Behandlungsoption beinhalten. Am häufigsten basiert sie auf einem Expertenkonsens und als Teil eines multimodalen Behandlungsansatzes. Eine »Sollte-Empfehlung« erhält sie etwa in der Leitlinie »Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen« (derzeit in Überarbeitung), eine »Kann-Empfehlung« etwa in den Leitlinien »Demenzen – Living Guideline« und »Schlaganfall« (derzeit in Überarbeitung). Bis heute ist die Musiktherapie in der ambulanten Versorgung jedoch keine Kassenleistung.
Wichtig ist Kreutz, Musik und Gesang wieder mehr in der Fläche einzusetzen, als Mittel, das Freude macht und Gemeinschaft schafft, Älteren in Altenheimen Zeitqualität schenkt sowie Kindern und Jugendlichen einen Sinn geben kann, ihre Freizeit jenseits digitaler Medien zu gestalten.
Der Experte kritisiert, dass zwar Leuchtturmprojekte staatlich finanziell unterstützt würden, Gelder für die Förderung des Singens in der Breite aber fehlten, etwa für die Ausbildung von Personal und für ihre adäquate Bezahlung. »Gemeinsames Singen ist im Interesse auch künftiger Generationen als unverbrüchliches Kulturgut zu verstehen. Politisch sollte das Singen mehr gefördert werden, und zwar schon mit musikalisch gut ausgebildeten Pädagogen in Kindergärten und Grundschulen. Denn: Gemeinsames Singen baut Ängste, Frustationen und Aggressionen ab. Es verbindet Menschen und macht ihnen Mut, ein harmonisches Miteinander in dieser sehr auf Selbstoptimierung ausgerichteten Gesellschaft zu leben.«