So friert man weniger |
Klar sei, dass schon kleine Änderungen im Verhalten etwas dafür bewirken können, weniger kälteempfindlich zu sein: «Es kann schon helfen, mit dem Auto nicht ganz zum Büro zu fahren, sondern den letzten Kilometer zu laufen oder gleich das Fahrrad zu nehmen.» Wer sich mehr fordern wolle, könne sich schrittweise über längere Zeit an Wechselduschen gewöhnen, sagt der Physiologe. Diese härten einer niederländischen Studie zufolge nicht nur ab, sondern scheinen sich auch positiv auf das Immunsystem auszuwirken.
Doch alle Anpassung hat Grenzen – eben auch, weil vieles beim Kälteempfinden von nicht veränderbaren Faktoren abhängt. 37 Grad: Das ist grob die Kerntemperatur, die unser Körper um jeden Preis aufrechterhalten will. Rezeptoren auf unserer Haut messen ständig, ob die Temperatur unserer Umgebung davon abweicht. Ist es kalt, machen wir uns unbewusst kleiner, um unsere Oberfläche zu verringern und so weniger Wärme abzugeben.
Bei anhaltender Kälte springt unser vegetatives Nervensystem – genauer: der Sympathikus – an. Er beginnt, die Blutgefäße in der Peripherie zu verengen, also etwa in den Händen oder Füßen. Ein Vorgang, der Zentralisation genannt wird. In dessen Verlauf wird das Blut von außen nach innen geleitet. Die Folge sind allerdings kalte Hände und Füße.
Fangen wir an zu zittern, ist das ein Versuch des Körpers, Wärme zu produzieren. Diese Reaktionen auf Kälte sind bei den meisten Menschen gleich – nicht aber der Punkt, an dem sie einsetzen. »Bei der Kälteempfindlichkeit gibt es individuell sehr große Unterschiede«, sagt Brandes von der Goethe-Universität in Frankfurt. Differenzen gebe es zudem auch zwischen Körperregionen: »Wer ins kalte Wasser geht, merkt, dass die Beine etwa weniger kälteempfindlich sind als der Bauch«, sagt Brandes, der auch Generalsekretär der Deutschen Physiologischen Gesellschaft ist.
Frauen neigen häufig eher zum Frieren. »Männer haben hingegen meist einen höheren Anteil an Muskelmasse, eine dickere Haut und ein besseres Oberflächen-Volumen-Verhältnis«, erklärt Korff von der Universität Heidelberg. Ebenso spiele das Alter eine Rolle. »In der Regel können junge Erwachsene am besten mit niedrigen Temperaturen umgehen, da sie einen höheren Grundumsatz haben.«
Der Grundumsatz beschreibt, wie viel Energie ein Mensch grundsätzlich über den Tag benötigt – ein Prozess, der bei älteren Menschen eher vermindert sei, da sie im Durchschnitt weniger Muskelmasse hätten, erklärt der Physiologe. »Ein höherer Muskelanteil sorgt dafür, dass mehr Wärme im Körper produziert wird.«
Ein anderer Faktor könnten bestimmte Gene sein. So stellte ein Forschungsteam unter Leitung des schwedischen Karolinska-Instituts fest, dass jedem fünften Menschen weltweit das Protein α-Actinin-3 in den Muskelfasern fehlt. Ein solcher Mangel verbessert die Kältetoleranz. Wie die Wissenschaftler vermuten, bedeutete die Genmutation wahrscheinlich einen evolutionären Vorteil, als die Menschen vor mehr als 50.000 Jahren von Afrika nach Europa migrierten.
Bei aller Adaptionsfähigkeit bleibe das Temperaturempfinden somit höchst individuell, unterstreicht Korff und verweist in diesem Zusammenhang auf die neue Verordnung zum Energiesparen, in deren Zuge seit 1. Oktober viele Büros nur noch auf 19 Grad geheizt werden dürfen: »Es gibt Menschen, die bei solchen Temperaturen wegen der Zentralisation steife Finger bekommen und schlechter tippen können, während bei anderen die Aufmerksamkeit leidet. All das geht zu Lasten der Leistungsfähigkeit.« Pauschale Verordnungen wie diese nähmen keine Rücksicht auf die individuelle Wärme- und Kälteempfindlichkeit, kritisiert Korff. »Aus physiologischer Sicht sind sie daher Unsinn.«