So kündigt sich eine Psychose an |
Juliane Brüggen |
05.12.2022 14:30 Uhr |
Fälschlicherweise wird oftmals angenommen, dass Schizophrenie-Patienten mehrere Persönlichkeiten haben. Das ist nicht der Fall. Es handelt sich um eine Störung von Denken, Wahrnehmung und Gefühlen. / Foto: Getty Images/Jonathan Knowles
Oft zeigen sich die ersten Symptome schon vier bis fünf Jahre vor einer schizophrenen Psychose. Das Problem: »Frühwarnsymptome sind häufig sehr unspezifisch«, so Dr. Vera-Estelle Makulla, Oberärztin des Behandlungsbereichs Psychotische Störungen am LWL-Universitätsklinikum Bochum. »Die Anzeichen werden häufig nicht erkannt, sodass Jahre vergehen, bis eine Diagnose erfolgt und eine Behandlung unter erschwerten Bedingungen starten kann.«
Dabei ist es überaus wichtig, früh einzuschreiten: Wird die Therapie erst spät begonnen, kann dies laut Makulla mit einem unzureichenden Rückgang der Symptome, längeren Krankenhausaufenthalten, einem höheren Depressions- und Suizidrisiko, mehr Rückfällen und einer verminderten Compliance einhergehen. »Durch die Früherkennung soll das Neuauftreten von Psychosen vermindert und die Verlaufsprognose verbessert werden. Auch die Krankheits- und Folgekosten sollen reduziert werden«, verdeutlichte die Medizinerin. Psychotische Störungen zählen aufgrund oft chronischer Verläufe und wiederholter stationärer Aufenthalte zu den pro Kopf kostenintensivsten Erkrankungen der Psyche.
Als erste (und sehr unspezifische) Anzeichen treten Interessenverlust, sozialer Rückzug, Leistungseinbruch und veränderte Gefühle wie Niedergeschlagenheit, Angst oder erhöhte Reizbarkeit auf. Auch Appetitveränderungen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie Schlafstörungen können mit einer sich entwickelnden Psychose in Verbindung stehen. Die in der Vorläuferphase (Prodromalphase) präsenten Basissymptome seien wiederum etwas spezifischer, so Makulla – sie betreffen Kognition und Sinneseindrücke. Betroffene bemerkten selbst, dass Denkabläufe, Sprache und Wahrnehmung nicht wie sonst funktionierten. Beispiele sind unter anderem:
Darüber hinaus könne sich auch der Sprachschatz verändern oder es falle Betroffenen mitunter schwer, Symbole zu erfassen oder die Aufmerksamkeit auf mehrere Dinge gleichzeitig zu richten.
Je nach Art und Häufigkeit werden Basissymptome in kognitiv-perzeptive Symptome (COPER) oder kognitive Störungen (COGDIS) eingeteilt. Patienten, die Basissymptome aufweisen, haben ein erhöhtes Psychoserisiko (CHR = clinical high risk). Differentialdiagnosen und organische Ursachen müssen zuvor ausgeschlossen werden.
Im weiteren Verlauf werden die Symptome immer spezifischer und »psychose-näher«, wie die Oberärztin erläuterte. Die späte Prodromalphase sei zunächst durch unterschwellige psychotische Symptome (APS = attenuated psychotic symptoms), dann durch kurzzeitig und in hoher Intensität auftretende psychotische Symptome (BLIPS = brief limited intermittent psychotic symptoms) gekennzeichnet. Zu den auftretenden Symptomen gehören ungewöhnliche Denkinhalte, wahnhafte Ideen, Misstrauen oder Verfolgungsideen, Größenideen, Wahrnehmungsabweichungen, Halluzinationen oder eine desorganisierte Kommunikation, die sich zum Beispiel in ungewöhnlichen Ausdrücken oder Satzkonstruktionen äußert.
Leiden Patienten unter APS und BLIPS, ist das Psychoserisiko besonders stark erhöht. Das Screening auf diese Symptome dient daher dazu, Patienten mit einer unmittelbar (innerhalb der nächsten zwölf Monate) drohenden Psychose zu erkennen (Ultra-High-Risk-Syndrom). In die Ultra-High-Risk-Kategorie fallen außerdem Personen, die ein genetisches Risiko für die Entwicklung einer Schizophrenie tragen und bei denen psychosoziale Funktionseinbußen auffallen.
Patienten mit einem Hochrisiko-Status entwickeln Makulla zufolge mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 36 bis 37 Prozent innerhalb eines Jahres eine klinisch manifeste Psychose. Die meisten Fälle träten in den ersten zwei bis drei Jahren nach der Feststellung des hohen Risikos auf.
Ist das erhöhte Risiko bekannt, könnten Patienten von einer professionellen Hilfe profitieren, erklärte die Ärztin und verwies auf das von der Europäischen Psychiatrischen Gesellschaft (EPA) empfohlene Interventionsmodell. Dieses beruht in erster Linie auf einer kognitiven Verhaltenstherapie. Nur wenn diese nicht anschlägt und sich ein negativer Verlauf andeutet, sollen niedrig dosierte atypische Antipsychotika eingesetzt werden – mit dem Ziel, den Patienten wieder für die psychologische Behandlung zu stabilisieren. Hinsichtlich der Früherkennung sieht Makulla in Deutschland noch Handlungsbedarf: »Es gibt zu wenige spezialisierte Zentren, die eine wirksame Prävention für Patienten anbieten.«
Makulla verwies auf zwei Projekte zur Früherkennung von Psychosen: Zum einen die Bochumer Früherkennungsinitiative (Bofit), eine ambulante Spezialsprechstunde des LWL-Universitätsklinikums Bochum, vor allem für Menschen zwischen 18 und 30 Jahren. Zum anderen eine aktuell laufende Studie zur Computer-assistierten Risikoevaluation (CARE). Hier wird mit künstlicher Intelligenz gearbeitet, um das Risiko einer Psychose-Entwicklung bei Hochrisiko-Patienten abzuschätzen und ihre Therapie zu optimieren. Bis zum 31. Dezember 2023 können Patienten sich für diese Studie einschreiben lassen.