Sollte die zweite Impfdosis verschoben werden? |
Der Impfstoff-Hersteller Biontech weist darauf hin, dass Sicherheit und Wirksamkeit des Impfstoffs nur für den Fall untersucht wurden, dass die zweite Dosis 21 Tage nach der ersten erfolgt. / Foto: Biontech
Die Idee ist auf den ersten Blick simpel und einleuchtend: Um zumindest einen gewissen Schutz gegen Corona zu haben, könnten möglichst viele Menschen zunächst die erste Dosis des Impfstoffs bekommen. Die zweite Dosis, die für einen besseren Schutz notwendig ist, käme dann später als vorgesehen dran. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) will aufgrund der begrenzten Impfstoff-Mengen prüfen lassen, ob ein solches Vorgehen für Deutschland in Frage kommt. Spahn sagte heute aber bereits, dass die ersten Rückmeldungen seien, den Abstand zwischen den beiden Dosen nicht zu vergrößern. Bei Experten gehen die Meinungen dazu auseinander – auch weil Daten fehlen.
Seit Ende Dezember bekommen bestimmte Bevölkerungsgruppen in Deutschland den Impfstoff «Comirnaty» von Biontech und Pfizer injiziert. Damit das Mittel viel Schutz bietet, müssen zwei Dosen im Abstand von etwa drei Wochen verabreicht werden.
Denkbar wäre nun, die zweite Dosis deutlich später zu spritzen. Dadurch könnten mehr Menschen eine erste Dosis bekommen – und damit zumindest einen gewissen Schutz vor Covid-19, so die Hoffnung.
In Großbritannien hatte der zuständige Impfstoff-Ausschuss empfohlen, vorerst möglichst vielen Menschen nur die erste Dosis zu geben. Die zweite Dosis könne zwölf Wochen nach der ersten gespritzt werden.
Man habe die Ständige Impfkommission (STIK) gebeten, vorliegende Daten und Studien zu einer solchen Praxis zu sichten, auszuwerten und eine Empfehlung in dieser Frage abzugeben, heißt es in einem BMG-Papier. »Eine solche Entscheidung in Abweichung von der Zulassung bedarf einer vertieften wissenschaftlichen Betrachtung und Abwägung.«
Da in Deutschland erst Ende Dezember mit dem Impfen begonnen wurde, ist bislang nicht bekannt, dass jemand regulär bereits die zweite Dosis bekommen hätte. Empfohlen ist laut der Europäischen Arzneimittel-Agentur, die zweite Dosis «mindestens 21 Tage» nach der ersten zu spritzen. Die WHO empfiehlt einen Abstand von 21 bis 28 Tagen. In der entscheidenden Phase-III-Studie zu Comirnaty mit rund 36.000 Teilnehmern hat laut Biontech die Mehrheit der Probanden »die zweite Impfstoffdosis wie im Studienprotokoll vorgeschrieben« bekommen – also nach 21 Tagen.
Den Ergebnissen zufolge hat der Impfstoff sieben Tage nach der zweiten Dosis eine Wirksamkeit von 95 Prozent entfaltet. Das bedeutet, dass unter den Probanden der geimpften Gruppe 95 Prozent weniger Erkrankungen auftraten als unter denen einer Kontrollgruppe.
Bei der Impfung mit Comirnaty werden die Körperzellen angeregt, einen bestimmten Virus-Baustein selbst herzustellen. Dieser Baustein gaukelt dem Körper eine Infektion vor, das Immunsystem wird aktiviert und bildet beispielsweise Antikörper. Allerdings sei diese Reaktion nach der ersten Dosis noch nicht besonders ausgeprägt, erklärt Sebastian Ulbert vom Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie (IZI). Erst nach der zweiten kommt es zu einem sogenannten Boost-Effekt, das Immunsystem springt richtig an und ist für eine spätere Infektion mit SARS-CoV-2 gerüstet.
Schiebt man die zweite Dosis nach hinten, ist erstmal mehr Impfstoff da, um mehr Menschen die erste Spritze zu setzen. Die Hoffnung ist, dass diese allein schon einen gewissen Schutz bietet. So weist etwa die Gesellschaft für Immunologie darauf hin, «dass bereits die erste Impfung ab Tag 14 einen beträchtlichen Schutz vor schweren Krankheitsverläufen bieten kann». Es dürfe zwar nicht auf die zweite Dosis verzichtet werden, aber: »In dieser besonderen Pandemielage ist es vertretbar, mit den jetzt vorhandenen Impfdosen möglichst vielen Menschen erst einmal die erste Immunisierung zu ermöglichen, und die zweite Impfung verzögert, aber zwingend innerhalb von 60 Tagen, nachzuholen.«
Gezielt wurde das gar nicht erforscht. «Die Studie war nicht darauf ausgerichtet, die Wirksamkeit des Impfstoffs bei nur einer Dosis zu untersuchen», heißt es in der Fachpublikation zur Phase-III-Studie. Die Autoren schreiben aber auch: »Nichtsdestotrotz lag die beobachtete Wirksamkeit in der Zeitspanne zwischen der ersten und der zweiten Dosis bei 52 Prozent.«
Die Datenlage ist einigen Experten zufolge für eine solche Entscheidung recht schwach. «Ich glaube, dass Menschen nach der ersten Spritze nicht gut geschützt sind», sagt Ulbert. Publizierte Daten zur Immunantwort von Probanden würden zeigen, dass der Körper nach der ersten Dosis kaum schützende Antikörper bildet. Es fehle eine Studie mit Zehntausenden Probanden, um die Dauer und Stärke der Schutzwirkung nach nur einer Dosis korrekt beurteilen zu können. Die Angaben zu einer Wirksamkeit von 52 Prozent nach nur einer Spritze bezeichnet er aufgrund der geringen Anzahl der aufgetretenen Covid-19-Erkrankungen in der Studie als »nicht sehr zuverlässig«. Zudem sei unklar, wie lange man die zweite Dosis aufschieben könne, um damit noch einen Boost-Effekt zu erreichen.
Biontech weist in einer Stellungnahme darauf hin, dass in der Phase-III-Studie Sicherheit und Wirksamkeit des Impfstoffs nur für den Fall untersucht wurden, dass die zweite Dosis 21 Tage nach der ersten erfolgt. »Auch, wenn Daten aus der Studie gezeigt haben, dass ein gewisser Schutz auch schon 12 Tage nach der ersten Impfung besteht, gibt es bisher keine Daten, dass ein Schutz nach der ersten Dosis auch über 21 Tage hinaus erhalten bleibt.«
Für Corona-Impfstoffe in der EU ist die EMA in Amsterdam zuständig. In einer Mail weist die Behörde darauf hin, dass die Empfehlungen zum Ablauf der Impfung auf Daten der Phase-III-Studie beruhen. In dieser Studie habe der Abstand zwischen den beiden Dosen maximal 42 Tage betragen. Würde der Abstand etwa auf sechs Monate vergrößert werden, »würde das eine Änderung der Bedingten Marktzulassung sowie mehr klinische Daten« notwendig machen. Bislang gebe es keine Daten, die zeigen, dass es einen Schutz nach der ersten Dosis gibt, der über zwei bis drei Wochen hinausgeht.
Das EMA-Pendant in den USA, die FDA, warnt davor, von der vorgeschriebenen Verabreichung der zwei Dosen abzuweichen. Mögliche Veränderungen in diesem Vorgehen wie die Reduzierung der Dosen oder die Verlängerung der Intervalle könnten eine Gefahr für das öffentliche Gesundheitswesen darstellen. Änderungen könnten erst erwogen werden, wenn es dazu wissenschaftlich fundierte Daten gebe.
Berater der Weltgesundheitsorganisation WHO halten es nur in Ausnahmefällen für vertretbar, die Verabreichung der zweiten Dosis des Corona-Impfstoffs Comirnaty von Biontech und Pfizer um etwa zwei Wochen hinauszuschieben.
Die Deutschen Immunologen sehen mehr Spielraum: «In dieser besonderen Pandemielage ist es vertretbar, mit den jetzt vorhandenen Impfdosen möglichst vielen Menschen erst einmal die erste Immunisierung zu ermöglichen, und die zweite Impfung verzögert, aber zwingend innerhalb von 60 Tagen, nachzuholen», schreibt etwa die Gesellschaft für Immunologie in einer Stellungnahme.
Die Entstehung von Resistenzen des Coronavirus gegen den Impfstoff hält Experte Ulbert für «extrem unwahrscheinlich». Befürchtungen in diese Richtung beruhen seiner Einschätzung nach auf Erfahrungen bei Antibiotika. Gegen diese Stoffe können Bakterien vergleichsweise einfach Resistenzen bilden, indem sie genau die Stelle eines Proteins verändern, an der das Medikament angreift.
Bei den Corona-Impfstoffen sei die Lage aber eine andere. Die vom Körper gebildeten Corona-Antikörper seien sehr vielfältig und bänden das Virus an vielen unterschiedlichen Stellen. Um den Impfstoff unwirksam zu machen, müsste das Virus sich an allen diesen Stellen wandeln.
Hinsichtlich von Mutationen sieht es dagegen anders aus. Wie die Virologin Professor Dr. Isabella Eckerle, Leiterin des Zentrums für neu auftretende Viruserkrankungen an den Universitätskliniken in Genf, gegenüber dem »Heute Journal« erklärte, könnten durch den Verzicht auf die zweite Impfung weitere Mutationen entstehen. Der Grund: Eine große Zahl an Teilimmunisierten öffne dem Virus die Tür, weitere Mutationen wie die im Dezember in Südostengland entdeckte Variante B.1.1.7 zu entwicklen.
Coronaviren lösten bereits 2002 eine Pandemie aus: SARS. Ende 2019 ist in der ostchinesischen Millionenstadt Wuhan eine weitere Variante aufgetreten: SARS-CoV-2, der Auslöser der neuen Lungenerkrankung Covid-19. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronaviren.