Start in ein leichteres Leben |
Den Pfunden den Kampf ansagen: Die Abnehmspritze taugt gut zur Initialzündung, dann müssen Umstellungen der Lebensweise und der Ernährung folgen. / © Adobe Stock/Renata Hamuda
In Deutschland sind rund die Hälfte der Frauen und zwei Drittel der Männer übergewichtig, haben also einen Body-Mass-Index zwischen 25 und 30 kg/m2. Ein Viertel ist adipös (BMI ≥30 kg/m2), wobei Menschen mit niedrigem Bildungsstand häufiger von starkem Übergewicht betroffen sind.
Diese alarmierenden Fakten rufen Fachleute in mehrerlei Hinsicht auf den Plan. Die Forderung nach Ernährungsbildung wird immer lauter: Jeder sollte die Marketing-Mechanismen der Lebensmittelindustrie durchschauen und beim Einkaufen gesündere Entscheidungen treffen können.
In die kürzlich überarbeitete S3-Leitlinie zur »Prävention und Therapie der Adipositas« wurde zudem erstmals das Thema Stigmatisierung aufgenommen. Eine Metaanalyse hatte ergeben, dass gewichtsbezogene Diskriminierung mit dem Schweregrad der Adipositas zunimmt und Betroffenen oft die alleinige Schuld für ihr erhöhtes Gewicht zugeschrieben wird. Vor allem Frauen litten zusätzlich unter ausgeprägter Selbststigmatisierung.
Professor Dr. Martin Smollich, Leiter der Arbeitsgruppe Pharmakonutrition am Institut für Ernährungsmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Lübeck betont zudem in seinem Ratgeber »Für immer schlank - Der Masterplan«, dass »für die Adipositasepidemie nicht der einzelne, vermeintlich willensschwache Mensch hauptverantwortlich ist, sondern eine Gesundheitspolitik, die Ernährungstherapie und Adipositasprävention systematisch vernachlässigt«. Die Abnehmspritze sieht er deshalb als „die logische Lösung für ein gesellschaftliches Problem, das die Politik seit Jahrzehnten ignoriert.
Hinter der Abnehmspritze verbergen sich drei Wirkstoffe aus der Gruppe der Inkretinmimetika, die derzeit für die Adipositastherapie zugelassen sind: Liraglutid (Saxenda®), Semaglutid (Wegovy®) und Tirzepatid (Mounjaro®).
Kleiner Reminder: Sie ahmen die Wirkung der im menschlichen Dünndarm produzierten Inkretine wie Glucagon-like Peptide 1 (GLP-1) in verstärkter Form nach. Während Liraglutid und Semaglutid nur am GLP-1-Rezeptor binden, wirkt Tirzepatid zusätzlich agonistisch an den Bindungsstellen des GIP (Glucose-dependent insulinotropic Peptide). Daher wird es auch als Twinkretin bezeichnet.
Körpereigenes GLP-1 und seine synthetisch hergestellten Analoga wirken im Organismus sowohl auf die Blutzucker- als auch auf die Appetitregulation und erzielen dabei folgende Effekte:
Die Arzneistoffe senken dadurch den Blutzucker, verhelfen zu längerem und stärkerem Sättigungsgefühl, vermindern den Appetit und vor allem Heißhungerattacken und tragen zur Gewichtsabnahme bei. Durch geringere Kalorienzufuhr reguliert sich die Energiebilanz nach unten; die purzelnden Pfunde motivieren dazu, gesündere Ess-Entscheidungen zu treffen.
Studien zufolge resultierte mit Semaglutid innerhalb von drei bis sechs Monaten eine durchschnittliche Gewichtsabnahme von 10 bis 15 Prozent. Mit Tirzepatid ließen sich in sechs bis zwölf Monaten bis zu 25 Prozent Körpergewicht verlieren, ähnlich wie nach bariatrischen Operationen. Vereinzelt gibt es bei den Wirkstoffen jedoch auch Non-Responder, nach drei Monaten ist dann noch kein Gewichtsverlust erkennbar.
Positive Effekte werden nicht nur bei Adipositas und Diabetes Typ 2 erzielt, sondern auch für gewichtsassoziierte Folgeerkrankungen wie Bluthochdruck, Fettsstoffwechselstörungen und Fettleber. Auch Verbesserungen der Nieren- und Herz-Kreislauf-Gesundheit sind beschrieben. Diese günstigen Auswirkungen erklären sich dadurch, dass GLP-1-Rezeptoren in vielen Organen zu finden sind: neben Darm, Bauchspeicheldrüse und Gehirn beispielweise auch in Herz, Gefäßen, Nieren und Immunzellen.
Unerwünschte Wirkungen sind oft durch die erwünschten Effekte bedingt: Starke Sättigung kann zu Übelkeit, Völlegefühl, Erbrechen oder Bauchschmerzen führen. Für schwere Nebenwirkungen wie Pankreatitis und ein erhöhtes Risiko von Schilddrüsentumoren konnten neuere Untersuchungen Entwarnung geben. Bislang ungeklärt ist eine mögliche Schädigung der Netzhaut, weswegen vor Beginn und im Behandlungsverlauf augenärztliche Kontrollen empfohlen sind.
Trotz der vielen positiven Nebeneffekte ist die Indikationsstellung für Inkretinmimetika bei Übergewicht streng. In der Leitlinie ist verankert, dass die medikamentöse Therapie als Ergänzung zu einer kalorienreduzierten Diät und erhöhter körperlicher Aktivität ab einem BMI ≥ 27 kg/m2 und gleichzeitigem Vorliegen gewichtsbedingter Begleiterkrankungen wie Typ 2 Diabetes, Bluthochdruck oder erhöhten Blutfettwerten erwogen werden kann. Auch Personen mit BMI ≥ 40 kg/m2, für die eine bariatrische Operation in Betracht gezogen werden kann, sollte leitliniengemäß zunächst dieses multimodale Konzept angeboten werden.