Strategien gegen das Stigma |
Wer in der Gesellschaft nicht alle Regeln erfüllen kann, wird leicht stigmatisiert. Psychisch Kranke erleben das häufig. / Foto: Fotolia/djama
Immer öfter schreiben Ärzte gesetzlich Versicherte wegen psychischer Leiden krank, berichtete die Techniker Krankenkasse Anfang 2020. Waren es im Jahr 2017 noch 2,71 Fehltage pro TK-Mitglied, stieg der Wert auf 2,77 (2018) und weiter auf 2,89 Arbeitsunfähigkeitstage (2019).
Zwar schreitet die Forschung rasch voran, und das Wissen über psychische Erkrankungen wächst. Dennoch zeigen mehrere Umfragen, dass sich die Einstellung gegenüber Menschen mit Depression, Schizophrenie oder bipolaren Störungen in den vergangenen 20 Jahren nicht verbessert hat.
»Auch heutzutage reagieren noch viele Menschen mit Angst und Zurückweisung, wenn sie mit psychischen Erkrankungen konfrontiert werden«, schreibt etwa die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in einer Pressemeldung. Man möchte mit Patienten weder befreundet sein noch mit ihnen zusammenarbeiten. Aber nicht nur die Erkrankungen selbst, sondern auch die Pharmako- und Psychotherapie sind mit Stigmata belegt.
Zum Hintergrund: »Stigma« stammt aus dem Griechischen und steht für »Brandmahl« oder »Zeichen«. Im übertragenen Sinne kennzeichnet der Begriff Menschen mit Charakteristika, die von einer gesellschaftlichen Norm abweichen. Das kann sich auf die Hautfarbe, die Religion, die sexuelle Orientierung oder eben auf Krankheiten beziehen. Diese Menschen werden nicht als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft akzeptiert.
Unterschieden wird zwischen sichtbaren Stigmata, etwa auffälligen Hautausschlägen, und unsichtbaren Stigmata wie psychischen Erkrankungen. Ob gewisse Merkmale als Stigmata gelten oder nicht, hängt vom jeweiligen Kulturkreis ab. Internationale Untersuchungen zeigen, dass eine Stigmatisierung bei psychischen Erkrankungen weltweit recht verbreitet ist. Auch die Vorurteile ähneln sich. Meist gelten Patienten mit Depressionen als willensschwach, und Patienten mit Schizophrenie wird nachgesagt, unberechenbar oder gar gefährlich zu sein.
Es bleibt aber nicht bei Vorurteilen. Menschen mit Stigmata werden, wie verschiedene Befragungen zeigen, im Beruf, bei der Wohnungssuche oder beim Abschluss privater Zusatzversicherungen benachteiligt. Viele Angestellte vermeiden deshalb Krankschreibungen von Neurologen oder Psychiatern. Der Arbeitgeber sieht zwar keine Diagnose, aber zumindest den Arztstempel.
Vorurteile beschränken sich nicht auf die gesellschaftliche Wahrnehmung. Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen, die eine Stigmatisierung erfahren, richten das Erlebte gegen sich. Psychiater sprechen dann von einer Selbststigmatisierung. Betroffene glauben beispielsweise, charakterschwach und inkompetent und sein. Sie bestätigen auch ihre Mitmenschen in ihrer ablehnenden Haltung – nach dem Motto »Ich kann es verstehen, sie haben ja recht.«
Besonders kritisch können selbstdiskriminierende Verhaltensweisen werden: »Jemand wie ich hat keinen Beruf verdient; ich brauche mich also nicht weiter zu bewerben.« Finanzielle Not kann die Folge sein. Und nicht zuletzt leiden Paarbeziehungen unter einer Selbststigmatisierung.
Aber das größte Problem ist, dass Patienten zögern, Psychotherapeuten aufsuchen. Trotz erwiesener Effekte solcher Behandlungen schließen sie sich quasi selbst davon aus, und ihre Erkrankung verschlechtert sich. Die Selbstzweifel werden noch größer; ein Teufelskreislauf beginnt.
Doch welche Mechanismen führen zur Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen? Obwohl seriöse Informationen selbst für Laien vorhanden sind, ändert sich die Einstellung gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen praktisch nicht.
Das erklären sich Soziologen unter anderem mit einer diskriminierenden Wortwahl. In der Alltagssprache sind Begriffe wie »Klapsmühle«, »Psychos«, »Irre« immer noch zu finden. Das festigt Stigmata. Hinzu kommt die einseitige Berichterstattung. Medien haben bei Laien eben die Deutungshoheit zu solchen Themen. Realitäten werden verzerrt, indem man nur über ausgewählte Fälle berichtet. Das ist zwar Teil der normalen journalistischen Arbeitsweise, macht sich aber hier besonders negativ bemerkbar.
Ein aktuelles Beispiel: »Als Rapper ist Kayne West ein Gigant«, schreibt der Stern in seiner Ausgabe vom 6. August 2020. »Er hält sich aber auch für Jesus und will US-Präsident werden. Grund für den Größenwahn: eine bipolare Störung (…).« Nur das Außergewöhnliche, das Besondere interessiert. Auch diskutiert die Öffentlichkeit bei jeder Gewalttat, ob ein Verbrecher vielleicht psychische Erkrankungen hatte und deshalb mit einer verminderten Schuldfähigkeit rechnen kann. In anderen Fällen geht es bei Gericht um eine mögliche Sicherheitsverwahrung und um forensische Gutachten. Solche Berichte über Einzelfälle untermauern die negativen, in vielen Köpfen fest verankerten Stereotypen.
Den Medien kommt aber auch eine entscheidende Bedeutung im Kampf gegen Stigmata zu: Sozialen Lerntheorien zufolge könnten Hauptdarsteller von Filmen oder Serien einen Beitrag dazu leisten, das öffentliche Meinungsbild geradezurücken. Experimentelle Studien mit kleinen Probandenzahlen haben dies bestätigt. Noch besser ist, Betroffene selbst zu Wort kommen zu lassen wie im englischsprachigen »Anxy Magazine«. Die Herangehensweise unterscheidet sich vom klassischen Journalismus: Hier interviewen keine Medienexperten die Patienten, sondern Erkrankte berichten selbst über ihr Schicksal inklusive der gesellschaftlichen Ausgrenzung.
Auch Anti-Stigmatisierungs-Kampagnen können Vorurteilen entgegenwirken, falls sie die jeweiligen Zielgruppen erreichen. Seit mehreren Jahren würdigt die DGPPN zusammen mit weiteren Partnern hilfreiche Initiativen mit einem Antistigmapreis.
Mit einer solchen Auszeichnung wurde [AUSWEG]LOS, ein Portal des Deutschen Caritasverbands, geehrt. Zielgruppe sind junge Menschenmit suizidalen Gedanken, die ebenfalls mit großen Vorurteilen zu kämpfen haben. Sie werden von geschulten Gleichaltrigen zwischen 16 und 25 Jahren beraten.
»Die Wunschperle. Vom Einfluss seelischer Erkrankungen auf Geschwisterkinder« arbeitet das Thema altersgerecht in Form eines Comics auf. Dazu gehört auch ein Begleitband für Erwachsene. Entwickelt wurde das Büchlein vom Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen. Dafür gab es von der DGPPN einen zweiten Platz beim Antistigmapreis.
Dritter Gewinner ist das Projekt »Selbst Betroffene Profis« der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen. Den Anstoß gaben drei selbst erkrankte Ärztinnen, die berufliche Stigmatisierungen erlebt haben. Ihr Ziel ist, die Öffentlichkeit über psychische Leiden bei Angestellten im Gesundheitswesen zu informieren, um Vorurteile abzubauen.
Ähnliche Ideen verfolgen die Stiftung Deutsche Depressionshilfe und die Stiftung Bahnsozialwerk. Bei ihrem Kooperationsprojekt »Peers at work« begleiten genesene, früher psychisch erkrankte Angestellte betroffene Kollegen mit ähnlichen Leiden im Job. Die berufliche Unterstützung ist Teil des betrieblichen Gesundheitsmanagements.
Die Beispiele zeigen: Kampagnen gegen die Stigmatisierung setzen bei ganz unterschiedlichen Zielgruppen an. Denn Vorurteile ziehen sich wie ein roter Faden durch die Gesellschaft.