Süße als Wohlfühlfaktor |
Barbara Döring |
31.01.2024 16:00 Uhr |
Dass Menschen Süßgeschmack als angenehm empfinden, war in der Evolution von Vorteil . / Foto: AdobeStock/dragonstock
Ob Schokolade, Kuchen, Eis oder Obstsalat – kaum jemand, der bei Süßem nicht hin und wieder gerne zugreift. Denn anders als bei bitteren oder sauren Lebensmitteln gibt es nur wenige Menschen, die beim Gedanken an Süßes die Nase rümpfen. »Dass wir auf Süßes mit Vorliebe reagieren und auf Bitteres eher mit Ablehnung, ist angeboren«, sagt Privatdozent Dr. Maik Behrens vom Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München im Gespräch mit PTA-Forum.
Das ist nicht nur beim Menschen so, sondern auch bei vielen anderen Wirbeltieren, weiß der Biologe. Dabei ist süß eine der fünf Grundgeschmacksrichtungen, die über die Geschmackssinneszellen auf der Zunge vermittelt werden. Auch bitter, sauer, salzig und umami – oft auch als fleischig bezeichnet – zählen dazu. Ob andere Geschmacksqualitäten wie fettig oder salmiakartig ebenfalls in diese Kategorie gehören, ist immer wieder in der Diskussion, aber bislang nicht belegt.
Dass unser Gehirn diese fünf speziellen Geschmacksrichtungen unterscheiden kann, hat einen guten Grund: »Jede Geschmacksqualität hat ihre physiologische Bedeutung«, erklärt Behrens. So ist salzig wichtig für unseren Elektrolythaushalt. »Wir mögen eine gewisse Salzigkeit bei Speisen, weil wir jeden Tag Salze verlieren und es wichtig ist, dem Körper regelmäßig diese Elektrolyte zuzuführen.« Hohe Salzkonzentrationen würden dagegen nicht schmecken, da sie eher schädlich sind.
Sauer sei wiederum ein Indikator für unreife Früchte, die unverträglich und deshalb besser zu meiden sind. Auch bakteriell verdorbene Speisen schmecken oft säuerlich, sodass diese Geschmacksqualität eher eine Warnung sei. Ebenso der Geschmack bitter, der uns davor bewahrt, Giftiges zu verzehren. Süß und umami sind dagegen darauf ausgerichtet, die lebenswichtige Energie in der Nahrung zu erkennen. Im Fall von süß sind es Kohlenhydrate; umami zeigt Proteine und deren Bausteine, die Aminosäuren, an.
Kein Wunder, dass süße Speisen ein Wohlgefühl auslösen und Kleinkinder eigentlich immer Süßes mögen, aber zum Beispiel Gemüse, vor allem bittere Sorten wie Rosenkohl, oft verschmähen. Doch woran liegt es, dass viele Erwachsene durchaus Geschmack an bitteren oder sauren Speisen und Getränken finden und manche eher das süße Frühstück wählen, während es andere pikant mögen?
»Im Laufe des Lebens machen wir sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Nahrungsmitteln, die in unsere Vorlieben einfließen«, weiß der Geschmacksforscher. Wenn jemandem zum Beispiel nach dem Essen einmal schlecht wird, würde er diese Empfindung mit dem Lebensmittel verknüpfen, auch wenn es vielleicht gar nicht für die Übelkeit verantwortlich war. Daraus könne sich eine Aversion entwickeln, die sich mitunter über viele Jahre aufrechterhält.
Umgekehrt führen positive Erfahrungen, zum Beispiel mit Kaffee, dazu, dass viele Menschen ihn mögen, obwohl er eher bitter schmeckt. Kaffee macht wacher und hilft so, manche Situation wie eine Prüfung besser zu meistern. So wird Kaffeegeschmack mit einer positiven Eigenschaft verknüpft, sodass sich eine gewisse Bittertoleranz entwickelt, erklärt der Experte. Solche Erfahrungen würden im Laufe des Lebens die Geschmacksvorlieben verändern, wobei jeder Mensch ein bisschen anders empfindet, so Behrens, der selbst eine Vorliebe für Kaffee hat und beim Bier am liebsten die bittersten Sorten wählt. Völlig ändern lassen sich die angeborenen Vorlieben und Abneigungen jedoch nicht. So würde es bei jedem, der etwas extrem Bitteres schmeckt, automatisch zum Würgereflex kommen. Dagegen könnten auch die schönsten Erfahrungen nichts ausrichten.
Für die Grundgeschmacksart süß gibt es übrigens nur eine Art von Rezeptor, an den Zuckermoleküle andocken. Um Bitteres zu schmecken ist die Zunge dagegen mit etwa 25 solcher Empfangsstationen ausgestattet. Bei diesen gibt es genetische Unterschiede, sodass manche Menschen die bitter schmeckende Substanz PROP (6-n-Propyl-2-Thioruacil) nicht wahrnehmen können. Auch das könnte erklären, warum manche Dinge für verschiedene Menschen ganz unterschiedlich schmecken. Bei der Wahrnehmung von Süßem gibt es von Mensch zu Mensch dagegen nur feine Unterschiede, weiß Behrens.
Nicht zu vergessen ist zudem, dass Schmecken sehr viel mehr ist als die fünf Grundgeschmacksarten, die über die Zunge vermittelt werden. »Zum Schmecken im allgemeinen Sprachgebrauch zählen auch Geruchseindrücke, die wir retronasal, also über den Nasenrachenraum, beim Kauen wahrnehmen«, sagt der Experte. Letztlich spielen alle unsere Sinne beim Schmecken mit: Wie fühlt sich die Speise am Gaumen an? Hört man ein angenehmes Knacken, wenn etwas schön knusprig ist? Ist das Essen hübsch angerichtet und als die Speise zu erkennen, die sie ist? All das spielt hinein, ob uns das Wasser im Mund zusammenläuft oder der Großteil auf dem Teller liegen bleibt.
Die Esserfahrungen spielen also eine große Rolle beim Geschmacksempfinden. Lässt sich die Lust auf Süßes aber auch abtrainieren? Schließlich bergen süße Nahrungsmittel im Überfluss mit ihren reichlich enthaltenen Kalorien heute ein großes gesundheitliches Risiko. Denn Zucker, den der Körper nicht direkt verbraucht, wandelt er in Fett um und speichert ihn für magere Zeiten.
»Süßes zu schmecken, ist ein starker Antrieb«, sagt der Experte. Wenn jemand sehr kontrolliert und beherrscht ist, kann er sich sicher alles Süße versagen. Je stärker man sich jedoch beherrschen müsse, umso eher bestünde die Gefahr, dass irgendwann vielleicht sogar das Gegenteil passiert und das Verlangen nach Süßem stärker wird.
Gänzlich auf Süßes verzichten, muss keiner. Jeder kann selbst einiges tun, um seinen Zuckerkonsum einzuschränken. So lässt sich meist beim Kochen oder Backen die in Rezepten angegebene Zuckermenge problemlos reduzieren, ohne dass sich das beim Geschmack wesentlich bemerkbar macht. Forscher sind zudem auf der Suche nach Substanzen, die in der Lage sind, den Geschmack von Zucker zu verstärken.
Wer lieber schon heute als morgen weniger Zucker zu sich nehmen möchte, sollte vor allem möglichst auf Fertigprodukte verzichten, in denen sich oft große Mengen davon versteckten. Der beste Weg zu einem gesunden Süßkonsum ist eine ausgewogene Ernährung mit frischen Produkten. Sie sorgt für eine ausreichende Zufuhr von Ballaststoffen, sodass Blutzuckerspitzen vermieden werden, die den Heißhunger auf Süßes anheizen.
Mit Süßstoffen als Zuckerersatz können sich viele Konsumenten nicht gut anfreunden. Sie aktivieren nicht nur die Süßrezeptoren, sondern auch einige Bitterrezeptoren. Der Grund, warum sie oft einen bitteren Beigeschmack haben. Einige Süßstoffe wirken jedoch sogar als Bitterblocker, wie Behrens Arbeitsgruppe Taste & Odor Systems Reception herausfand. Die Wirkung einzelner Süßstoffe genauer zu erforschen, könnte dazu beitragen, den optimalen Süßstoffmix zu finden, damit uns Süßes auch ohne Zucker und Kalorien Wohlbefinden bereitet.
Die Vorstellung, dass man Süßes nur im vorderen Bereich der Zunge schmeckt und Bitteres ausschließlich im hinteren Bereich der Zunge wahrgenommen wird, ist überholt. Darstellungen sogenannter »Zungenkarten«, die eine solche Verteilung vermittelten, beruhen auf einer Fehlinterpretation einer Arbeit aus dem Jahr 1901 des deutschen Wissenschaftlers David P. Hänig. Er beschrieb die Geschmackswahrnehmung auf der Zunge korrekt und zeigte, dass verschiedene Bereiche der Zunge unterschiedlich empfindlich darauf reagieren. Er wusste aber bereits, dass alle Geschmacksqualitäten auf allen Bereichen der Zunge mit Geschmackssinneszellen detektiert werden können. Spätere Darstellungen gaben die Erkenntnisse verfälscht wieder, indem sie die verschiedenen Geschmackswahrnehmungen einseitig bestimmten Zungenbereichen zuordneten, obwohl nur Sensitivitätsunterschiede zu verzeichnen sind. Dieser Mythos hielt sich über Jahrzehnte.